Brigitte Burgmer

WARUM UND WOZU KUNST?

Abbildungen

SENTENZEN
I. KUNST AM NULLPUNKT UND GRENZÜBERSCHREITUNGEN

1. Grundlagenforschung in der Kunst.
2. Mit Augentäuschung begann die Karriere der Objektkunst.
3. Das Pissoir hinter dem Vorhang wurde nicht bemerkt; es wurde erst später Kunst.
4. In die Arme der Technik oder zurück zur Natur.
5. Wahlweise Leere ausstellen, sich selbst oder den Globus zum Kunstwerk erklären. Besucher signieren und einen Klammeraffen fürs Moma kaufen.
6. Fische pürieren, einen Hund oder vielleicht einen Menschen im Museum sterben sehen.

II. DIE KUNST IN DER GESELLSCHAFT IST EINE ZWIEBEL
7. Statt Genie ein Geniestreich.
8. Der Tod aus Blechkannen.

III. DIE DARSTELLUNGWEISE VERRÄT AUCH DIE GESINNUNG
9. Groteske Ehrenmänner kommen der Wirklichkeit näher.
10. Ideale Kreise und Körper.

IV. ABSTAKTION FÜR MAGIE UND TRANSZENDENZ
11. Das Höhlengleichnis neu sehen.
12. Eine Toter zwischen Naturalismus und Abstraktion.

V. WAHRNEHMEN, VORSTELLEN UND DENKEN
13. Wachstumsprinzipien in der Natur und im Kopf.
14. "Das sieht aus wie…...".
15. Einfall, Intuition, Inspiration: "Wer ist da? – Oh, ausgezeichnet! Führen Sie das Unendliche nur herein!"
16. Die weise Künstlerin phantasia kennen die Gehirnforscher nicht.

VI. BILDER FREI HAUS
17. Was der Schlaf der Vernunft gebiert.
18. Mythen als Bricolage.
19. Jedermanns persönlicher Kulturbeutel.

VII. SPEKULATIONEN ÜBER EVOLUTIONÄRE URSPRÜNGE VON KUNST
20. Energie und Formung, Transformation, Variation, Komplexität des Materiellen.
21. Zielgerichtete Kraft, Spezialisierungen und Erfindungen, Wandel und Bewegung, Kommunikation und Lust der Lebendigen.
22. Betr.: Neues vom Menschen.

Brigitte Burgmer

Vortrag auf der Tagung der Deutschen Gesellschaft für Sozialanalytische Forschung (DGSF) in Wittlich am 5.⁄6. Juni 2010: „Getrennte Welten im Dialog - Psychoanalyse und Kunst“; (überarbeitet im Dezember 2012)

WARUM UND WOZU „KUNST“?
Wenn man sich die unzähligen Werke der gesamten Weltkunst seit ihren Anfängen vor Augen führt, entstehen eine Reihe von Fragen: Warum künstlerisches Schaffen überhaupt entstanden ist und wie es entstand, und woher die ungeheuer vielfältigen Erscheinungsformen stammen. Abgesehen von den zur Verfügung stehenden Materialien und erfundenen Werktechniken, waren leitende Ideen von Gesellschaften prägend, Weltanschauungen haben über Jahrhunderte hinweg die Künstler mehr oder weniger beeinflusst. Die Vielfalt der künstlerischen Kreationen entsteht aber auch durch die verschiedenen Arbeitsweisen des Gehirns. Die evolutionär entstandene Beschaffenheit des Gehirns ermöglicht schöpferischen Menschen ganz unterschiedliche Ausdrucks- und Gestaltungsformen. Und viel spricht dafür, dass die Ursprünge der Kreativität weit zurück in die Evolution reichen, lange vor dem Auftritt des Menschen.

I. KUNST AM NULLPUNKT UND GRENZÜBERSCHREITUNGEN
Was überhaupt als Kunst zu betrachten sei, wurde seit Jahrhunderten immer neu ausgehandelt, aber die Situation der Kunst ist ziemlich verwirrend geworden. Denn rund um den Globus verzeichnen wir seit Jahrzehnten - parallel zur Abnahme der Biodiversität - eine zunehmende Vielfalt von Produktsorten und Kunstarten. Im letzten Jahrhundert gab es radikale Neuerungen, Verwerfungen, Umbrüche, Tabubrüche und nicht hintergehbare Nullpunkte ebenso wie Erweiterungen der Bildenden Kunst in die Bereiche Design, Architektur, Theater, Medien und Werbung. Und es gab eine Amalgamierung von Kunst und Leben.
Man fragt sich, ob Künstler in einer übertechnisierten Welt von Superlativen - wie dem riesigen Teilchenbeschleuniger im Cern - mit ihren Möglichkeiten auf verlorenem Posten stehen. Zudem sind die ommnipräsenten medialen Bilder aus aller Welt mit kaum zu überbietenden Wirkungen eine mächtige Konkurrenz. Und die Wirtschaft beeinflusst mit immer schnelleren Innovationsschüben und raffinierten Vermarktungsstrategien nicht nur die Kunstvermarktung, sondern auch die Kunstformen und -inhalte. Kunst und Kunstbetrieb rücken teilweise in die Nähe von Showgeschäft oder Kasino: „Anything goes"? oder „Rien ne vas plus"? Kontroverse Einschätzungen fordern im ersten Schritt zu einer Bestandsaufnahme der Kunst der letzten hundert Jahre heraus.

1. Grundlagenforschung in der Kunst
Am Beginn der Moderne stehen die Künstler aufseiten der Gegenständlichkeit oder Ungegenständlichkeit, und sie entdecken das reale Objekt als Kunstmittel. Impulsiv und intuitiv malte Kandinsky seine gegenstandslosen „Improvisationen", in denen das expressive Potential der bildnerischen Mittel sein Inneres realistisch zum Ausdruck bringen sollte. Kandinsky hat sich erfolgreich als Erfinder der abstrakten Kunst in die Kunstgeschichte eingeschrieben, obwohl Victor Hugo schon um 1856 eins seiner experimentellen Bilder mit brauner Tinte auf Papier „Abstrakte Komposition" betitelte. Kandinskys erstes abstraktes Bild von 1911 entstand spontan und ist fast kalligraphisch angelegt; diese Handschrift gab er während der Zeit am Dessauer Bauhaus zugunsten einer kühlen geometrischen Formensprache auf.
Kasimir Malewitsch ging mit seiner Suprematistischen Malerei bis zur absoluten Gegenstandslosigkeit. Sein „Schwarzes Quadrat auf weißem Grund" von 1915 muss - nach Michael Langer - als „Kunst am Nullpunkt" gelten, aber „1921 übertraf Alexander Rodtschenko seinen Kollegen Malewitsch an Radikalität. Er stellte in Moskau drei Bilder aus, deren Fläche jeweils homogen in einer der drei Grundfarben rot, gelb, blau gestrichen war. Eine homogene Farbfläche weckt, sofern sie sich nicht durch ihre Begrenzung von der Umgebung abhebt und diese einbezieht, einen ästhetisch neutralen Eindruck … Rodschenkos Bilder sind nicht am, sondern auf dem Nullpunkt von Kunst. Sie sind das Nichts an Kunst, ohne in einem Bereich außerhalb von Kunst etwas zu bedeuten." (1)

2.  Mit Augentäuschung begann die Karriere der Objektkunst
George Braque war 1912 der Erste, der ein Stück Tapete in die Kohlezeichnung eines Stilllebens einklebte. Auf der Tapete sieht man Eichenholzmaserungen, die täuschend echt in der mimetischen Tradition der Trompe l´œil-Malerei dargestellt sind; interessanterweise hätte Braque die Holzmaserung selbst malen können, da er es im elterlichen Betrieb gelernt hatte. Sein Nachbar Picasso, der die Technik des papier collé sofort aufgriff, fügte echte Zeitungsstücke in seine Zeichnungen ein. So wurde die Realität in die kubistische Kunst importiert, wofür die Künstler einen Teil ihrer Autorenschaft aufgaben. Aus den Papiers collés entwickelten sich die Collage, die Assemblage und das Environment mit Fundstücken aus der Realität. Aber der passionierte Schachspieler Duchamp ist mit seinem legendären Schachzug Readymade kunsthistorisch unschlagbar. Entscheidend war dabei nicht Kunstfertigkeit, sondern seine Idee, das Konzept Kunst grundsätzlich in Frage zu stellen.

3. Das Pissoir hinter dem Vorhang wurde nicht bemerkt; es wurde erst später Kunst
Duchamp signierte vor fast hundert Jahren ein umgedrehtes Urinoir mit dem Namen des Fabrikanten und reichte es zu einer New Yorker Kunstausstellung ein. Pierre Cabanne kam 1966 im Interview mit Marcel Duchamp darauf zu sprechen :
P. C.: „Im April 1916 nahmen Sie an einer Ausstellung teil, die unter dem Namen „Die Vier Musketiere" lief … Außerdem gehörten Sie zu den Gründungsmitgliedern der Gesellschaft der Unabhängigen (Société des Indépendants), zu deren erster Ausstellung Sie ein emailliertes Pissoirbecken mit dem Titel „F o u n t a i n" (Springbrunnen), signiert R. Mutt, einreichten. Es wurde abgelehnt.
M. D.: Nein, nicht abgelehnt. Bei den „Unabhängigen" durften Kunstwerke nicht einfach abgelehnt werden.
P. C.: Also gut, sagen wir, es wurde nicht zugelassen.
M. D.: Nein, es wurde einfach übergangen. Ich war selbst in der Jury, wurde aber in dieser Angelegenheit nicht konsultiert, weil die offiziellen Jurymitglieder nichts von meiner Urheberschaft wussten. Und ich hatte ja den Namen Mutt auch angegeben, um jedes persönliche Moment auszuschalten. Der S p r i n g b r u n n e n wurde so einfach hinter eine Trennwand gestellt, und während der ganzen Ausstellung wusste ich nicht wo er war …. Und nach Abschluss der Ausstellung fand sich dann der S p r i n g b r u n n e n hinter dieser Stellwand, und ich konnte ihn an mich nehmen." (2)
Heute steht dieses multiple Readymade in vielen Museen, z. B. im Kölner Museum Ludwig. Das Designobjekt wird im Museumskontext gemeinhin als Kunstwerk betrachtet, ja als Skulptur bewundert, worüber Duchamp sich in einem Filmporträt mokierte. Antikunst mochte er den "Springbrunnen" nicht nennen, weil dadurch wieder ein - wenn auch verneinender - Kunstbezug entstehe.
Seine Entgrenzung von Kunst und Artefakten ist im Kunstbetrieb gang und gäbe geworden. Nur der Museumskontext erhebt etwa eine Baustelle zur Installationskunst, was bei der Badewanne von Beuys nicht auf Dauer funktionierte: das Werk „unbetitelt (Badewanne)" wurde 1973 von feiernden SPD-Genossen nur als Badewanne aufgefasst und nach der Entfernung von Mull- und Leukoplastresten zum Spülen von Biergläsern zweckentfremdet. Das ist die Krux der Readymades: Eine echte Badewanne ist eben keine dargestellte Wanne.

4. In die Arme der Technik oder zurück zur Natur
Readymade, Figuration und Abstraktion waren in den 1960iger Jahren zeitgleiche Tendenzen. Eine Reaktion auf die Konsum bejahende und schnell populär werdende Pop Art war die Minimal Art, etwa von Donald Judd. Seine Werke sind so kühl und unpersönlich wie die technischen Produkte der Stahlindustrie, die auf der Grundlage naturwissenschaftlicher Prinzipien in geometrischen Formen konstruiert werden. Die Installation „Acht Modul Einheiten" (V-Kanalstück) ist eine serielle Aufreihung von Profilrahmen aus Stahl, die einzeln wie Bilderrahmen aussehen. „Die antidynamische Skulptur basiert auf Fragen wie Maßstab, Schwerkraft, Proportion und endlosem Raum. Seine Arbeit geht von strengen formalistischen Grundsätzen aus, die jedoch immer zu dem harten Industriematerial in Beziehung gestellt sind." So umschreibt M. Friedman das Technisch-minimalistische des Werks im Bestandskatalog des Museums Ludwig. (3)
Hingegen sinnlich wirken naturnahe Werke der Arte Povera: Erde, Steine, Glas oder Bienenwachs bringt Mario Merz in Kontrastbeziehungen zu Neon-Botschaften; seine Iglus aus einfachen, natürlichen Materialien wirken fast archaisch, solange sie draußen in der Natur installiert sind, im Museumsraum wirken sie fremd und fern wie selige Inseln. - In der Land Art fand eine Erweiterung des Kunstbegriffs statt, weil die Natur selbst zum künstlerischen Readymade wurde: Der Amerikaner Robert Smithson fotografierte in der Serie Sites vorgefundene (oder manipulierte) Situationen in der Natur und erhob sie zum Monument; bei den Non-Sites versetzte er Behälter, die topographischen Gegebenheiten nachempfunden waren, mit unbearbeiteten Naturmaterialien wie Erde, Gestein und Sand in museale Räume.

5. Wahlweise Leere ausstellen, sich selbst oder den Globus zum Kunstwerk erklären , Besucher signieren und einen Klammeraffen fürs Moma kaufen
Michael Langer konstatierte 1984 (ebenda, S. 68/69): „Mit seiner Ausstellung „Le Vide“ („Das Leere“) 1958 in der Pariser Galerie Iris Clert übertraf Klein dagegen die Radikalität reiner Readymades. Die Ausstellungsbesucher fanden in den Galerieräumen weder Skulpturen noch Bilder, sondern die reine Leere! Die Antikunstqualität dieser Ausstellung wird auch nicht dadurch aufgehoben, dass Klein - wie er 1961 schrieb - von brennenden Feuern im Herzen des Leeren überzeugt war …. Piero Manzoni weitete die Anwendung der Theorie reiner Readymades aus: 1961 richtete er einen großen Skulpturensockel verkehrt herum auf. Dadurch erklärte er den ganzen Erdball zum Kunstwerk…. Auch Naturgegenstände bezog er in den Bereich der Readymades ein. In einer römischen Galerie signierte er zum ersten Mal Ausstellungsbesucher. Er bescheinigte ihnen schriftlich, dass sie durch seine Unterschrift zu echten Kunstwerken geworden seien." - Mittlerweilen kann alles als Kunst deklariert werden.
Im jüngsten Beispiel geht es um ein virtuelles Teilchen: „Es sei ein bedeutender, erhebender Ankauf, verkündete das New Yorker Museum of Modern Art (Moma). Man sei sehr stolz. Dabei hat der Neuzugang zur Moma-Sammlung gar nichts gekostet: Der neue Nachbar von Van Goghs „Sternennacht" und Picassos „Les Demoiselles d´Avignon" ist das @ -Zeichen. Mit dem rein konzeptionellen „Ankauf" des „@" wolle man unterstreichen, so das Moma, dass der physische Besitz eines Objektes nicht länger notwendig sei." Dies berichtet Christian Bos im Kölner Stadt-Anzeiger vom 29. März 2010 (Kultur S. 10) und kommentiert, dass das Museum sich mehr und mehr zu einem „Hort der Ideen wandelt". Offen bleibt, ob das MOMA die andere Symbolik von @ mit einkalkulierte, es verweist nämlich auf die Enteignung der User, deren Daten ein „Hort der Ideen&# 034; für unkontrollierbare ökonomische Ausbeutung und Missbrauch in den Netzen geworden sind.

6. Fische pürieren, einen Hund oder vielleicht einen Menschen im Museum sterben sehen
Entgrenzungen eignen sich bestens für medienwirksame Spektakel; sie sind in vielen Bereichen zur Obsession geworden, nicht nur in der Kunst. Ethische Grenzen überschreiten die folgenden Kunstaktionen, die Wiebke Gronemeyer in der „art" vom September 2009 beschreibt: „Auf dem Galerieboden liegt angekettet ein magerer Hund und schaut aus traurigen, müden Augen. Von Zeit zu Zeit schlurft er schlapp von einer weißen Wand zur anderen. Über ihm steht in großen Buchstaben aus Hundefutter geschrieben: „Du bist, was du liest." Versucht der Hund an das Futter zu gelangen, dann zieht sich das Seil straff um seinen Hals und würgt ihn. Verharrt er still in seiner Position, droht er zu verhungern. Keiner der Besucher oder Galerieangestellten kommt auf die Idee, dem Hund das lebensnotwendige Futter zu reichen. Binnen weniger Tage stirbt er – im Namen der Kunst. Dieses grausame Schicksal hat der costaricanische Künstler Guilermo „Habacuc" Vargas dem Tier 2007 in Nicaragua zugedacht", erläutert Gronemeyer und kritisiert: „Das Spiel mit Leben und Tod, mit Kunst und Moral, treibt derzeit eine ganze Reihe von Künstlern – es scheint, als sei grausame Kunst geradezu Mode. Der in Chile geborene Däne Marco Evaristti löste mit seiner Installation „Helena" schon im Jahr 2000 eine Welle der Empörung aus: in mehreren Saftmixern ließ er Goldfische schwimmen – solange bis einer der Besucher der Ausstellung auf den Knopf drückte und sie geräuschvoll in unendlich viele Stücke zerhackt wurden." ( 4) -
Vor Jahrzehnten wurde in psychologischen Experimenten an Probanden getestet, in welchem Maße sie Menschen, die sie nicht sehen konnten, schmerzvolle Stromstöße zufügten; jetzt wird von Künstlern in Ausstellungen weiter „getestet". …
In Deutschland sorgte Gregor Schneider im Jahr 2008 für heftige Diskussionen mit seinem „Raum für einen Sterbenden": „I want to display a person dying naturally in the piece or somebody who has just died. My aim is to show the beauty of death." Dieses Statement war ohne Schneiders Wissen schon zwei Tage später auf der Titelseite von "The Art Newspaper" zu lesen. Der ideale Ort wäre für Schneider das reale Museum Haus Lange in Krefeld statt seines Nachbaus im Modell, sagte er im Interview zu Silke Hohmann von „Monopol", die ihn kritisch hinterfragte. Schneider wandte ein: „Also ich traue dem Museum und den Menschen mehr zu. Wieso sollen Künstler nicht in der Lage sein, Räume fürs Sterben zu bauen? Wieso kann man das Sterben nicht aus der Tabuzone reißen und die Hoffnung schöpfen, dass man es auch so feiern kann wie die Geburt eines Kindes?" (5)
Es mag erhebender sein, in einem geschichtsträchtigen Haus der Kunst zu sterben als zu Hause, wenn der Freiwillige im Museum friedvoll sterben kann,- jenseits vom zu erwartenden Medienspektakel. Bestenfalls kommt ein Nachdenken in Gang über die Verdrängung des Todes in dieser vom Jugendwahn beherrschten Gesellschaft. Natürlich ist diese Inszenierung des Todes auch ein Baustein in Schneiders Künstlerkarriere. …

Die angeführten Kunstwerke aus dem 20. Jahrhundert zeigen die spannungsreichen Pole Figuration und Abstraktion in der Kunst, aber seit Duchamps „Springbrunnen" beginnt eine Entgrenzung von Kunst und Leben. Mittlerweile kann man alles als Kunst deklarieren, was den Kunstbegriff obsolet machen müsste, so dass man sich fragen könnte, warum weiter unbeirrt Werke produziert werden, die als Kunst ausgestellt, verkauft und gesammelt werden. Ganz im Gegenteil finden wir heute weltweit alle erdenklichen Kunstkonzepte und damit das ganze Spektrum der schöpferischen Kreativität.

II. DIE KUNST IN DER GESELLSCHAFT IST EINE ZWIEBEL
Bei den bisherigen Betrachtungen waren ansatzweise jene Faktoren im Blick, die für eine Deutung von Kunstwerken wichtig sein können: der Künstler mit seiner geistig-seelischen Verfassung, seinen Intentionen und Arbeitsbedingungen, seine Vermarktungschancen und vor allem Merkmale der Gesellschaft, in der er lebt und schafft. Als Ethnologe öffnet Claude Lévi-Strauss durch Kulturvergleich den räumlichen und zeitlichen Horizont weiter. Er sagte 2008 in einem Filmporträt von Bouloi/INA (6): „Jedes Mal, wenn wir uns eine Frage stellen, wenn wir über etwas nachdenken, verfügen wir, zumindest virtuell, über die Gesamtheit aller möglichen Erfahrungen. Deshalb besteht auch die Gefahr, dass wir uns in einer Art Magma oder in einem Gewimmel von Erscheinungen verlieren. Wir stünden vor einer ungeheuren Unordnung, wenn wir nicht eine Art Wette eingingen. Mit all diesen Erscheinungen meine ich, wie die aberhundert oder abertausend Gesellschaften auf je eigene Art eins der Probleme des menschlichen Lebens gelöst haben – Heirat, Recht, Technik, Riten oder magische Praktiken und so weiter. Unsere einzige Chance, dieses Durcheinanders Herr zu werden, ist, davon auszugehen, dass jede von irgendeiner Gesellschaft gefundene Lösung in einer besonderen Sprache etwas ausdrückt, das allen gemeinsam ist … Und gerade die strukturale Linguistik … hat als erste bewiesen, dass bei den menschlichen Phänomenen Erklärungsmodelle fruchtbar und effizient sein konnten, die darauf beruhen, dass man in der Gesamtheit, im Ganzen, ein Erklärungsprinzip erkennen kann, das keins der Teile dieses Ganzen für sich zu liefern imstande ist." Lévi-Strauss beschreibt mit der neuen Qualität der Gesamtheit ein Phänomen von mental-sozialer Emergenz.

7. Statt Genie ein Geniestreich
Im Folgenden soll an einem Kunstwerk exemplarisch untersucht werden, welche Erkenntnisse und Deutungen auf den Ebenen eines „Zwiebelschalenmodells" möglich sind, wenn man - schrittweise über das Werk hinausgehend - weiter reichende Aspekte einbezieht.
In der ersten Schicht steht das Werk „For the Love of God" von Damian Hirst aus dem Jahr 2007 im Zentrum. Es handelt sich um den rundum mit Diamanten besetzten Platinabguss vom Schädel eines Menschen, der offenbar anonym bleiben soll, was schon deshalb bedeutsam ist, weil das Individuum hier offenbar keine Rolle spielt. Auf den ersten Blick ist der veredelte, grinsende Schädel mit seinem makellosen Gebiss eine eindrucksvolle Erscheinung. Die alle Details verbergende Bekleidung mit einer gleichartig glitzernden Diamantenoberfläche vereinfacht die natürliche Schädelform. Die Diamanten  verfremden, glätten ihn und wirken durch die Gleichförmigkeit der Steine eigentlich unecht wie Tand; gleichwohl wird der Totenschädel durch diese etwas billig wirkende Verschönerung ästhetisch „genießbar".
In der zweiten Schicht erinnert „For the Love of God" stilistisch an die reich verzierten Totenschädel seit dem späten Mittelalter, die kunstvoll - bis an die Grenze der kitschigen Verniedlichung - verziert wurden und durch die plastischen Applikationen sinnlich schön wirken. Im Vergleich sieht man, wie maschinenmäßig und seriell fabriziert der Totenkopf von Hirst aussieht und wie kalt und unmenschlich der Schädel wirkt. Man begreift, wie wenig er mit der andächtigen Verehrung der Gebeine von Heiligen in Gotteshäusern gemein hat, die einmal Fürbitter, Mittler, vielleicht sogar Vorbild waren, und die den Sinn der Heilsgeschichte sinnfällig machten. Diese Sinngehalte kann man bei Hirst nicht finden, weil sein Kontext ein ganz anderer ist.
In der dritten Schicht kann man über die Herstellung nachdenken, welcher Betrieb den Abguss und den Platinguss bewerkstelligte, welcher versierte Juwelier die handwerkliche Arbeit technisch so perfekt ausgeführt hat und wie frei er bei der Gestaltung war – wobei man wissen sollte, dass es sich angeblich um das materialmäßig teuerste Kunstwerk aller Zeiten handelt. Man sieht, dass Hirst nur die Idee zum Werk hatte, was weniger mit Genie, aber viel mit einem Geniestreich zu tun hat. Man könnte nun den Künstler selbst befragen, wie und warum er auf dieses Motiv und diese Gestaltung gekommen ist, aufschlussreich ist aber schon ein Zitat des Künstlers aus Wagners Kolumne im „art"-Magazin : „Ich habe mir einfach überlegt, was ich maximal erfinden kann, um den Sieg über den Tod zu markieren." (7) Zum heutigen Wettkampf der Superlative passen die Worte Sieg und maximale Erfindung genauestens, sie hören sich allerdings an wie aus dem Sport- und Finanzressort. Über einen „Sieg über den Tod" kann der Totenschädel nur grinsen …
Erst in der vierten Schicht werden Hirsts Worte in gesellschaftlichem Bezug bedeutungsvoll, wenn man bedenkt, dass er das Werk höchstpersönlich zur Auktion einreichte und dass er jenem Konsortium angehörte, das seine Schöpfung für 75 Millionen Euro erwarb. Diese Marktpolitik wirkt wie ein Hohn auf den Reliquienkult, auf den er sich doch formal bezieht. Es sieht so aus, als ob das Werk speziell für diese Versteigerung gemacht worden ist. „Hirsts Totenkopf macht es unmöglich, zwischen genialem Coup und zynischem Investment zu unterscheiden. Hirst ist ja nicht dumm. Es ist schlimmer: Er ist clever. Cleverness ist im Big Business das Wichtigste…. Aber so schamlos wie jetzt hat noch keiner vorsätzlich den Preis hochgetrieben." So sinniert Thomas Wagner in seiner Kolumne in der o. g. „art" - Ausgabe über die zeitgenössische Kunst im „Raubtierkapitalismus". –

Dass der grinsende Totenschädel auch als künstlerischer Kommentar zu den globalen desaströsen Finanzspekulationen interpretiert werden könnte, kam Wagner nicht in den Sinn, obwohl die amerikanische Investment-Bank Lehman Brothers pikanterweise just am Tag der Auktion bei Sotheby´s ihre Insolvenz anmeldete. Erst auf der gesellschaftlichen Ebene mit ihren Leitideen erschließt sich der diamantenbesetzte Schädel als höchst aktuelles Vanitas-Symbol und zeigt zugleich die Macht der Auktionshäuser. Hirst hat mit der Materialwahl Diamant als Kapitalanlage richtig spekuliert und vieles spricht dafür, dass dieses Werk als erfolgreichstes Spekulationsobjekt in die Kunstgeschichte eingeht. Das ist neu und erlaubt Rückschlüsse auf die derzeit vorherrschende Ideologie „Der Geldwert bestimmt den Kunstwert" und auf die Praxis der letzten Jahrzehnte, Kunst auf Auktionen im Wert zu steigern und dann als Kapitalanlage zu bunkern. Angesichts der Verwirtschaftlichung des ganzen Lebens in einer Gesellschaft, in der die Menschen als Humankapital gehandelt werden, ist es kein Wunder, wenn Damian Hirst den verzierten Schädel als Spekulationsobjekt instrumentalisiert. Der Sinn des Titels „For the Love of God" wird dann aber höchst fragwürdig.

8. Der Tod aus Blechkannen
Hirsts Kunstwerk steht in einer langen Tradition von Reliquienkult, und es soll nicht unterschlagen werden, dass auch die alten Reliquien ein wohl kalkulierter Wirtschaftsfaktor waren bzw. sind, wie etwa die Heiligen Drei Könige im „Heiligen Köln". Im Kontrast zum Werk von Hirst sieht man beim „Very Hungry God" von Subodh Gupta einen riesigen, Furcht einflößenden Totenkopf aus lauter Stahltöpfen und Pfannen mit grimmig zusammen gepressten Zähnen aus Kannen! Der Inder Gupta setzte seinen 2,6 m hohen Totenschädel aus blitzeblanken Alltagsgegenständen zusammen, die ihn an die indische Küche seiner Kindheit erinnern. Durch seine Monumentalität und die Echtheit der Objekte wirkt Guptas Zähne fletschender Tod realer und bedrohlicher als jener grinsende Tod im funkelnden Diamantenkleid, aber letztlich erinnern beide daran: in welchem Gewand der Tod auch auftritt, er ereilt Arme wie Reiche!

III. DIE DARSTELLUNGWEISE VERRÄT AUCH DIE GESINNUNG
Die künstlerischen Interpretationen der Vergänglichkeit von Hirst und Gupta zeigen in ihrem jeweiligen Gestaltungsmodus die verschiedenen Gesinnungen der Künstler. Denn in dieser Hinsicht können alle Kunstwerke seit den Höhlenmalereien graduell zwischen den Polen Idealisierung und Realismus eingeordnet werden. So kann man den geschönten Totenkopf von Hirst als idealisiert bezeichnen, hingegen Guptas hungrigen Tod aus Blechkannen als realistisch. Beim Realismus geht es um Wahrhaftigkeit, wie die folgenden Beispiele zeigen.

9. Groteske Ehrenmänner kommen der Wirklichkeit näher
Die Bilder, die Otto Dix und George Grosz nach dem I. Weltkrieg malten und zeichneten, zeigen die Menschen schonungslos und kritisch in all ihrer Hässlichkeit, Verkommenheit und in ihrem Elend: entstellte Kriegskrüppel, kapitalistische Fettwänste bei ihren heruntergekommenen Huren, schmierige Schieber und stumpfsinnig gewordene Arbeiter… Die Darstellungsweise der ausdrucksstarken Bilder ist abstrahiert, geometrisch vereinfacht und verzerrt; sie drücken durch groteske Übertreibung die Nachkriegsrealität wahrhaftiger aus als naturalistische Darstellungen es vermögen. Dix und Grosz beschönigen nichts, idealisieren nichts. Das ist mit „Gesinnung" gemeint.

10. Ideale Kreise und Körper
Wahrscheinlich erfanden die Griechen des klassischen Zeitalters die abstrakte Mathematik, weil sie mit dem Schilfrohr im Sand Geometrie betrieben! Denn kein noch so perfekt gezeichneter Kreis kann der mathematischen Definition genügen, nur der gedachte Kreis ist vollkommen rund. Das ideal Schöne liegt bei den klassischen griechischen Darstellungen von Göttern, Heroen und Idolen in der bewundernswerten organischen Natürlichkeit, aber auch in den idealen mathematischen Proportionen; eine bis heute Maßstäbe setzende Skulptur von Polyklet trägt dementsprechend den Titel „Die Regel". In der Antike, und dann wieder in der Renaissance, idealisierten die Künstler den menschlichen Körper auf mathematischer Grundlage, weil man das ideal Schöne sowenig wie den vollkommenen Kreis in der Realität finden kann.
Platon veranschaulichte seine Ideenlehre, dass die Phänomene der Wirklichkeit nur ein schwacher Abglanz ihrer Ideen seien, in seinem Höhlengleichnis; man kann diese Lehre metaphorisch in Beziehung setzen zu den ältesten Malereien, die in Höhlen ihren Anfang nahmen.

IV. ABSTAKTION FÜR MAGIE UND TRANSZENDENZ
Die vielfältigen Darstellungsweisen von 40.000 Jahren künstlerischer Tätigkeit lassen sich auf eine Weise ordnen, die uns der Frage näher bringt, wie Kunst überhaupt entsteht. Man kann die Kunst aller Zeiten und Kulturen anhand von Kriterien einordnen zwischen die Pole Naturalismus und Abstraktion, indem man ihren Grad an Naturnähe oder Abstrahierung bestimmt: durch die Analyse von Farb- und Formgestaltung, die Analyse der Darstellung von Faktur, Plastizität, Raum und die Analyse der Detailtreue. Werke aus der Steinzeit, Ägypten und dem 20. Jahrhundert kann man unter diesen Aspekten vergleichen.

11. Das Höhlengleichnis neu sehen
Als „älteste Venus der Welt" gilt derzeit eine auf 40.000 Jahre Alter geschätzte Menschenfigur aus der Höhle „Hohle Fels" bei Schelklingen in Süddeutschland. Wie die Venus von Willendorf ist sie nicht natürlich dargestellt mit ihren großen Kugelbrüsten, einer Vulva bis zum Bauch und Beinstümpfen. Wir wissen nicht, ob die ausgeprägten sexuellen Merkmale die weibliche Fruchtbarkeit feierten oder beschworen, oder ob die genealogische Idee des Weiterlebens in den Nachkommen symbolisiert wurde. Bereits bei den frühen Wandmalereien, etwa in der Höhle von Chauvet in Südfrankreich, gibt es sehr abstrahierte Linienzeichnungen und zugleich solche mit frappierendem Naturalismus in der kenntnisreichen anatomischen und plastischen Darstellung. „Wissenschaftler glaubten lange, dass Malereien aus den Anfängen am primitivsten waren. Heute weiß man, dass sich bereits früheste Hö hlenmaler genau so fortschrittlicher Mittel bedienten, wie die Menschen heute", schreibt Flemming Kaul 1998 in seinem Bericht über die virtuosen, über 30.000 Jahre alten Malereien aus der Höhle von Chauvet im französischen Arc-Tal. (8)
Vergleiche der Darstellungsmodi haben bei den frühesten Figurendarstellungen die Frage nach dem historischen Primat von Abstraktion oder Naturalismus deshalb nicht entscheiden können, weil diese Darstellungsweisen die beiden entgegengesetzten Realitätsbezüge des Geistes erkennen lassen. Entweder setzt sich der Künstler in Beziehung zur Wirklichkeit und gibt der mimetischen Nachahmung des Seheindrucks Vorrang oder er denkt an das formal und wesenhaft Allgemeine einer Tierart: Der Maler von Chauvet ging in seine Höhle hinein und malte aufgrund seiner Seherfahrungen das "Nashorn an sich" als Denkfigur. Wir finden diese Reduktion auf das Wesentliche wieder bei Picassos Stier, den er in traumwandlerischer Sicherheit mit einer Linie zeichnete, und bei seinem Stierkopf, den er aus Fahrradsitz und Lenkstange montierte. Hier geht es nicht um Wahrhaftigkeit oder Ideal, sondern um eine Abstraktion mittels Auge, Hirn und Hand mit der lustvollen Fragestellung, wie wenig Zeichenhaftes das Gehirn für eine konkrete Vorstellung braucht.

12. Eine Toter zwischen Naturalismus und Abstraktion
Bei der Mumienhü aus Hawara in El Fayum (Ähypten aus dem zweiten Jahrhundert vereinen sich sinnreich Konkretes und Abstraktes: Der gespannte Blick des jungen Mannes in dem ausgegrenzten Bildfeld zielt am Betrachter vorbei in die Ferne. Durch die naturalistische Darstellung wirkt das Porträt lebendig, denn das Gesicht hat natürliche Proportionen, es sieht plastisch aus durch Reflexe und Schattierungen, und der legere Faltenwurf des Gewandes ist realistisch arrangiert, nur die Haare mit dem Kranz sind vereinfacht und durch Regelmäßigkeit leicht stilisiert. Die Mumienporträts dieser Zeit wurden zu Lebzeiten der Toten gemalt, sie haben so charakteristische Physiognomien, dass man sich individuelle Menschen in einem bestimmten Alter vorstellen kann. Im Gegensatz dazu sind die mythologischen Bilder auf der Hülle dieser Mumie im klassischen ägyptischen Stil gemalt und von daher abstrahiert. Sie sind stilisiert durch schematische Vereinfachung der Formen, Typisierung der Proportionen und durch die flächigen Ansichten frontal oder seitlich; die Farben sind nicht natürlich, sondern symbolisch. –
Abstraktion war essentiell für die Darstellung von Transzendenz im alten Ägypten, denn nur durch den Verzicht auf das konkret Individuelle konnten Herrscher, Götter und das Totenreich dargestellt werden,- die Lebendigkeit dieses jungen Mannes entstand durch Naturalismus. Durch die Vereinigung der gegensätzlichen Darstellungsweisen mahnt er als Lebender aus der Ewigkeit des Totenreichs: „Was ich bin, wirst du sein. Was du bist, bin ich gewesen."

V. WAHRNEHMEN, VORSTELLEN UND DENKEN
Bisher war der Blick auf die Beschaffenheit und Verschiedenartigkeit von künstlerischen Kreationen gerichtet, im Folgenden richtet er sich auf die differenzierten geistigen Werkzeuge in ihrer Korrespondenz zu den jeweiligen Schöpfungen der Menschen. Denn Wahrnehmen, Vorstellen und logisches Denken sind ganz verschiedene Gehirntätigkeiten: ein vorgestellter Stuhl ist ein anderer als ein wahrgenommener Stuhl oder die Idee „Stuhl". Die Besonderheiten meiner Atelierstühle kann ich immer genauer studieren. „Im Gegensatz dazu gibt es nun in der Vorstellung eine Art wesenhafter Armut", führt Jean-Paul Sartre in seinem Buch über „Das Imaginäre" aus:„… die Objekte der Vorstellungswelt könnten in keiner Weise in der Wahrnehmungswelt existieren, sie würden nicht die notwendigen Bedingungen erfüllen." (9)
Deshalb sind Kunstwerke, die nach der Vorstellung kreiert wurden, fundamental anderer Art als die nach Augenschein gemachten. Diese Unterscheidung ist im Medienzeitalter von höchster Brisanz. Denn genauestens dargestellte Phantasiefiguren auf dem Bildschirm entspringen der Phantasie der Spiele-Designer und sind „Futter für die Augen" der Betrachter, außerdem müssen Geist und Psyche des Medienkonsumenten die Millionen Bilder auch verdauen. Beim Lesen oder Hören einer Erzählung erfindet das Gehirn eines jeden Menschen seine eigenen Phantasiefiguren. –
An diesem Punkt des Gedankenganges zeigen sich übergreifende Korrelationen zwischen der Weltsicht, dem Kunstschaffen, der Kunstbetrachtung und der Gehirntätigkeit:
1. Künstler und ganze Gesellschaften unterscheiden sich offenkundig in ihrer Weltanschauung, d. h. in den Konzepten ihres Realitätsbezugs. Deshalb hat die religiöse Kunst des christlichen Mittelalters einen ähnlichen Grad an Naturferne wie die altägyptische Kunst bis Echnaton, weil diese Gesellschaften auf das Jenseits ausgerichtet waren. Das naturnahe Porträt auf der Mumienhülle von Hawara zeugt von einer Hinwendung zur Welt unter politisch veränderten Verhältnissen.
2. Diesem Bezug zur Realität entspricht der jeweilige Darstellungsmodus der Kunstwerke, wie an den idealisierten Plastiken der griechischen Antike, an umfunktionierten Readymades des Industriezeitalters oder am diamantenen Totenschädel als Spekulationsobjekt aufgezeigt wurde.
3. Für die Analyse von Kunstwerken etablierte der Basler Kunsthistoriker Georg Schmidt sechs Kriterien zur Bestimmung des Naturalismusgrades durch die Analyse von Farb- und Formgestaltung, die Analyse der Darstellung von Faktur, Plastizität, Raum und die Analyse der Detailtreue. Er zeigte beispielhaft auf, wie sich die Väter der Moderne im 19. Jh. nacheinander von allen Aspekten des Naturalismus lösten. (9).
4. Fünfzig Jahre später konnten Neurologen durch neue Untersuchungsmethoden die Gehirntätigkeit beim Sehen im Einzelnen analysieren. Die Reize der Netzhaut werden als elektrische Impulse an jene hoch spezialisierten Neuronengruppen verteilt, die arbeitsteilig für Farbqualitäten, Kanten bzw. Formgrenzen oder Oberflächenstrukturen zuständig sind, andere Neuronen analysieren die Dreidimensionalität durch Licht und Schatten und die Raumdimensionen. Die neuronalen Analysen des Gesehenen sind auf physikalisch-chemischer Ebene abstrakt und bleiben unserem Denken verborgen, doch ihre unerklärliche Synthese ergibt für das Bewusstsein einen „Seheindruck" von äußerer Realität.
Offenbar wurden die Naturalismusaspekte explizit zur Kunstanalyse benutzt - bevor man die darauf spezialisierten Neuronen der Wirklichkeitsanalyse kannte -, weil die Aspekte dem neuronalen Netzwerk „eingeschrieben", also inhärent sind. Und deshalb finden wir auch naturalistische Gemälde in Steinzeithöhlen, 78 n. Chr. in Villen von Pompeji oder in Palästen der italienischen Renaissance.

13. Wachstumsprinzipien in der Natur und im Kopf
Ganz anderer Natur ist der mentale Vorgang der Abstraktion. Wenn der Höhlenmaler die Merkmale eines Tieres durch Vereinfachung auf ihren wesenhaften Kern reduzierte, näherte sich der Geist sozusagen der Abstraktheit seiner tätigen Neuronen an. - Die analytische Arbeitsweise des Gehirns zeigt sich exemplarisch bei Leonardo da Vinci. Aufgrund seiner empirischen Beobachtungen stellte er einerseits die Einzigartigkeit jedes Baumes fest, selbst bei Bäumen derselben Art, und fand dennoch eine übergreifende Gesetzmäßigkeit: „Alle Äste eines Baumes auf jeglicher Höhe ergeben zusammengenommen die Dicke des Stammes." (11) Ähnliche Gedankengänge der Abstraktion zeigen sich in Goethes Skizzen zur Urform aller Blätter. Abstrakte Theoriebildung entstand in der evolutionären Entwicklung allmählich durch Überdenken und Systematisieren von Beobachtungen und Erfahrungen in der Natur, um die verwirrende Vielfalt der Phänomene in eine gültig bleibende Ordnung zu bringen.

14. „Das sieht aus wie….."
Die produktiv vorstellende Phantasie löst sich jedoch von der Realität im Hier und Jetzt, sie speist sich aus anderen Eigenheiten der Gehirntätigkeit und der Psyche. Ein wichtiges biologisches Erbe ist unser unwiderstehlicher Drang, Uneindeutiges oder Ungegenständliches spontan figürlich aufzufassen: Naturformen, wie knorrige Äste oder bizarre Felsen, wirken suggestiv und evozieren unwillkürlich Vorstellungen von menschlichen oder tierischen Figuren, die uns in der Dunkelheit ängstigen, bei anderer Gelegenheit die Phantasie anregen oder uns amüsieren. Es gibt uralte sog. Figurensteine, Fundstücke aus der Natur, die etwa wie ein Tierkopf aussehen. Vielleicht wurden ihnen wegen dieser Ähnlichkeit magische Kräfte zugeschrieben. Auch der projektive Rorschach-Test in der Psychologie basiert auf diesem figürlichen Ausdeuten offener, unbestimmter Formen. Viele einfache Experimente sind zu den verschiedenartigen Wahrnehmungs-, Vorstellungs- und Denkakten entwickelt worden. Die Beschaffenheit des Menschen, alles Vage aufklären und identifizieren zu müssen, hilft Gefahren zu überleben, aber die Neigung, sich von rational erfassbaren Objekten wie einem Stein inspirieren zu lassen, ist eine der Quellen von Magie, Ritus und Kunst.

15. Einfall, Intuition, Inspiration: „Wer ist da? – Oh, ausgezeichnet! Führen Sie das Unendliche nur herein!" (Luis Aragon)
Arthur Koestler beschreibt in seiner PEN-Rede „Die Wahrheit der Phantasie" 1976 sehr anschaulich Formen des schöpferischen Denken: „Einer weit verbreiteten, aber irrigen Meinung zufolge vollzieht sich der Denkprozess des Naturwissenschaftlers streng logisch und ohne die sinnliche und visuelle Qualität der poetischen Phantasie. Dagegen brachte eine Umfrage unter amerikanischen Mathematikern zutage, dass fast alle von ihnen, Einstein eingeschlossen, in visuellen Bildern und nicht in präzisen sprachlichen Begriffen dachten. Einer der größten Physiker aller Zeiten, Michael Faraday, stellte sich die Spannungen um einen Magneten als räumliche Kurven vor, die er „Kraftlinien" nannte und die in seiner Phantasie so real waren, als handele es sich um massive Röhren. Er sah das Universum buchstäblich von diesen gekrümmten Linien durchwirkt und erlitt wenig später einen Anfall von Schizophrenie. " (12) An anderer Stelle schreibt Koestler zur Ideenfindung: „Sowohl der Künstler wie der Wissenschaftler haben die Gabe (oder sind dazu verdammt), die trivialen Geschehnisse der Alltagserfahrung sub specie aeternitatis wahrzunehmen; und umgekehrt das Absolute in menschlichen Begriffen auszudrücken, in einem konkreten Bild zu spiegeln." Bei Künstlern wie bei Wissenschaftlern fand er dieselbe Methode: „Ein vertrautes Ding oder Ereignis wird in einem neuen, unvertrauten, enthüllenden Licht wahrgenommen - als sei dem Auge plötzlich der Star gestochen worden. Dieser Prozess liegt sowohl der Kunst der Entdeckung als auch den Entdeckungen der Kunst zugrunde; ich habe für ihn den Begriff „Bisoziation" geprägt, um ihn von der gewöhnlichen Routine der Assoziation auf ausgetretenen Wegen zu unterscheiden. Bisoziation bedeutet einen plötzlichen Sprung der schöpferischen Phantasie, der zwei bis dahin unverbundene Ideen, Beobachtungen, Wahrnehmungsgefüge oder „Gedankenuniversen" in einer neuen Synthese verbindet. (ebenda).

16. Die weise Künstlerin phantasia kennen die Gehirnforscher nicht
Für einige Forscher der Künstlichen Intelligenz ist das Gehirn „meat ware" oder auch „soft ware". Bei solch demoralisierenden Begriffen für den homo sapiens verwundert es nicht, dass viele Gehirnforscher das Denkorgan als Computer ansehen und dass die Phantasie meistens fehlt, wenn die sog. Leistungen des Gehirns aufgezählt werden. Sie erforschen vornehmlich die Wahrnehmungen, nicht die Vorstellungen, wahrscheinlich deshalb, weil man Phantasievorstellungen nur durch Introspektion erkunden kann.
Im 2./3. Jahrhundert n. Chr. gab Philostrat in seiner Lebensbeschreibung des Apollonius von Thyana der Phantasietätigkeit den Vorzug, er hielt die Phantasie für „eine Künstlerin, die weiser ist als die Nachahmung. Diese stellt nur dar, was sie sieht, die Phantasie aber auch, was sie nicht sieht, da sie die Wahrheit als Grundlage ihrer Schöpfung nimmt." (13) Bei einem Disput erklärt Apollonius, dass ideale Götterbildnisse nur vorgestellt, d. h. von der Phantasie erschaffen werden können. –

Was sind nun die Bedingungen der Möglichkeit von Vorstellung, wie entstehen Phantasiegebilde?

Vor mehr als tausend Jahren ließen chinesische Maler mit wilder Malerei ihren Gefühlen und ihrer schöpferischen Phantasie freien Lauf: „Manche Künstler haben sich mit sonderbaren Versuchen abgegeben; so lesen wir von einem Meister des 8. Jahrhunderts, der Seide auf dem Boden ausbreitete, planlos Tusche darauf spritzte und das Ergebnis durch Hinzufügung einiger Pinselstriche in eine Landschaft verwandelte. Ein anderer arbeitete mit abgenutzten Pinseln und wieder einer gar mit seiner eigenen, in Tusche getauchten Haarflechte. Den Preis für Überspanntheit muss man aber jenem Maler zusprechen, der mit dem Rücken gegen das Bild malte, wobei er den Pinsel zum Rhythmus einer Begleitmusik bewegte." (14) Kaum ein Original dieser „i-p´in" Malerei der sog. hemmungslosen Gruppe ist erhalten geblieben, da sie damals nicht zur offiziell abgesegneten Kunst zählte.
Entscheidend ist bei dem „Tuschespritzer" die knappe Ergänzung der spontanen Kleckse durch gezielte Pinselstriche, ihre gekonnte Ausdeutung als erfundene Landschaft. Dabei wird die Vorstellungstätigkeit durch eigene Kenntnisse, Erinnerungen und Assoziationen gespeist.
Ähnliches berichtet Leonardo von Botticelli, der vorschlug, einen mit verschiedenen Farben getränkten Schwamm an die Wand zu werfen, in dem man dann eine sehr schöne Landschaft erblicken werde: „Es stimmt wohl", kommentiert Leonardo, „dass man in einem solchen Flecken verschiedene phantastische Gebilde dessen sehen kann, was man in ihm suchen will, das heißt Menschenköpfe, verschiedene Tiere, Schlachten, Felsklippen, Meere, Wolken, Wälder und andere ähnliche Dinge mehr….so lehren sie dich doch in keiner Weise, wie man die Einzelheit ausarbeitet." (ebenda, S. 212)
Einfach gesagt, da wird ein bizarrer Fleck wahrgenommen und die reinphantasierten Schlachten werden vorgestellt, d. h. man „malt sich die Schlachten in der Phantasie aus". Ein versierter Maler kann den Fleck durch naturalistische Ausarbeitung dem Wahrnehmungseindruck annähern –

VI. BILDER FREI HAUS
Eine der unglaublichsten Formen der Phantasietätigkeit überfällt uns mehrfach jede Nacht beim Träumen; dieses aberwitzige „Kino im Kopf" kann beglückend sein oder zutiefst erschreckend und verstörend. Die unfreiwillige Bilderwelt des Schlafs ist so seltsam und irritierend, weil sie ihre eigenen Gesetzmäßigkeiten hat, in Träumen werden Naturgesetze aufgehoben: die auf Erfahrung und Einsicht gründende Logik von Ursache-Wirkungszusammenhängen, selbst chronologische Zeitfolgen und vertraute Raumgefüge können sich auflösen, im Traumzustand stehen alle Kriterien für die Konstruktion von Realität zur Disposition. Das Netzwerk der Neuronen wird - scheinbar sinnwidrig - jede Nacht anders geknüpft. Deshalb muss man beim Erwachen oft die Fakten einsammeln, um das Ichbewusstsein wieder im Hier und Jetzt zu verankern. -
In den Schöfungsmythen der Naturvölker wurden erklärendes Denken und phantasievolle Vorstellungen in „unvernünftiger" Weise sinnvoll verwoben, während moderne Mythen wie der Urknall sich einleuchtend begründen lassen: sie entstehen auf der Grundlage von bewährten, wenn auch vorläufigen wissenschaftlichen Theorien.

17. Was der Schlaf der Vernunft gebiert
Die Dadaisten und Surrealisten sind die erste Generation von Künstlern, die systematisch, ja radikal die Möglichkeiten der Inspiration durch Träume und Assoziationsmechanismen praktisch erforscht und für Literatur, Kunst und für das Erschrecken von Bürgern fruchtbar gemacht haben.
Der französische Dichter André Breton beschreibt 1924, wie sich ihm erstmals jenes seltsame Gebiet erschloss, das er und seine Freunde dann jahrelang kreuz und quer durchstreiften: „1919 achtete ich zum erstenmal bewußt auf jene mehr oder weniger verstümmelten Satzfetzen, die sich etwa dem Bewußtsein aufdrängen, wenn man gerade am Einschlafen ist und durch niemanden von außen gestört wird, die aber so lange in gar keinem sinnvollen Zusammenhang mit dem vorausgegangenen Wachzustand zu stehen scheinen, wie man sie nicht gründlich psychoanalytisch untersucht. So kam mir einmal eines Abends vor dem Einschlafen eine ziemlich bizarre Wortfolge zum Bewußtsein …: ´Da ist ein Mensch, den das Fenster entzweigeschnitten hat´. … Fraglos handelte es sich dabei ganz einfach um die Senkrechtstellung eines Menschen, der sich in Wirklichkeit waagerecht zu einem Fenster hinausbeugt. Da in meiner Vorstellung das Fenster die räumliche Achsenverdrehung des Menschen mitgemacht hatte und ihn immer noch rechtwinklig durchschnitt, fand ich, daß ich es hier doch wohl mit einer bildlichen Vorstellung ziemlich seltener Art zu tun hätte, und ich bekam Lust, sie mir fest einzuprägen und sie als Baustein in das Materiallager für mein dichterisches Schaffen aufzunehmen … Weil ich mich damals ohnehin noch mit FREUD befaßte und mit seinen Untersuchungsverfahren, die ich während des Krieges gelegentlich bei Patienten anzuwenden hatte, vertraut war, nahm ich mir vor, nun aus mir selbst herauszuholen, was man sonst den Patienten zu entlocken sucht: nämlich ein möglichst munter plätscherndes Monologisieren, das vom kritischen Verstand des Redenden gar nicht mehr kontrolliert wird. …." (15) Breton besuchte zwei Jahre später Freud, der laut Nadeau als einer der Propheten des neuen Zeitalters galt. Luis Aragon schildert die Folgen dieser ungeheuren Offenbarung: "Die Surrealisten stürzten sich begeistert in dieses Experiment. Zunächst meinte jeder von uns, er sei von einer Geistesverwirrung befallen, und suchte dagegen anzukämpfen. Es widerfuhr uns die ganze Macht der Bilder." (ebenda, S. 54)

18. Mythen als „Bricolage"
Nicht nur die Träume, auch die mythischen Erzählungen sind Ureltern der surrealen bzw. phantastischen Kunst. Bilderreich erzählen die Mythen von der Erschaffung der Welt und vom Ursprung der unerklärlichen Naturgewalten. Die scheinbare Unlogik und Absurdität ihrer bildlichen und literarischen Erfindungen erklärt der Ethnologe Claude Lévi-Strauss in einem filmischen Porträt mit „wildem Denken" und mit dem Prinzip der „Bricolage" (Bastelei), die beide auch den Künstlern eigen sind, nur dass sie heute in unserer hoch technisierten Welt zu ganz anderen Ergebnissen führen als bei den Naturvölkern: (6):
„Wenn man versucht, die Mythen auseinanderzunehmen, wie man ein Uhrwerk auseinandernimmt, und ihre Funktionsweise zu verstehen, zeigt sich sowohl eine Ähnlichkeit als auch ein Unterschied zwischen mythischem und wissenschaftlichem Denken. Ähnlich ist, dass die Mythen wie die Wissenschaft erklären wollen. Verschieden ist, dass die Wissenschaft gleichsam fallweise erklärt, indem sie gewisse Erklärungen entweder aus der Physik oder aus der Biologie oder aber aus der Psychologie usw. verwendet, während der Mythos alles gleichzeitig zu erklären versucht. Der Mythos versucht, ein Artikulationsschema herauszuarbeiten, das von der Gesamtheit der Erfahrung einer Gesellschaft auf der Grundlage ihrer Beziehungen zur Welt Rechenschaft ablegt – und mit der Welt meine ich den gestirnten Himmel über uns, die Pflanzen, die dort wachsen, die Tiere, die dort leben, das Klima, das dort herrscht&# 044; usw., und schließlich die gesellschaftliche Ordnung selbst, so wie diese Gesellschaft sie versteht, lebt und geschaffen hat. … Und genauso findet der Bastler in seiner Werkstatt, auf seinem Dachboden oder in seinen Schubladen eine bestimmte Zahl von Gegenständen und Bruchstücken, allesamt gebrauchsfertig. Sobald er sich eine neue Aufgabe stellt, eine neue Konstruktion oder Maschine zu bauen hat, nimmt er diese Teile zur Hand und setzt sie neu zusammen, um das gewünschte Ergebnis zu erzielen. Das wilde Denken beruht auf dieser Art Bastelei." –
Auf diesem Hintergrund werden auch die verschiedenen Kunstformen von Jahrtausenden bildnerischer Tätigkeit verständlicher, von den verzierten Werkzeugen der Steinzeit bis zu heutigen Assemblagen mit Artefakten. Auch die Objets trouvés des Industriezeitalters regen die Phantasie zur Zweckentfremdung und Aufladung durch Poesie an.

19. Jedermanns persönlicher Kulturbeutel
Unermesslich viele Bildwelten sehen, phantasieren und träumen wir in einem Menschenleben. Die Menschen aller Kulturen und Zeiten bewahren in einem individuellen "Kulturbeutel" jene persönlichen Vorstellungen, Erfahrungen und Ideen, die sie zeitlebens geprägt haben, - in der familiären Gemeinschaft wie im sozialpolitischen und geschichtlichen Umfeld. In diesem „Kulturbeutel" sind allerlei Erinnerungsbilder und Assoziationen, Einbildungen und Phantasiegebilde, Empfindungen und Gefühle, Wahn- und Wunschvorstellungen, Erwartungen und Befürchtungen, Vorlieben und Abneigungen, Urteile und Vorurteile, eigene Ideen und die der Gesellschaft … Alle diese Inhalte sind mehr oder weniger bewusst oder unbewusst: sie bilden sozusagen die Häute jenes Zwiebelschalenmodells, das bei der Analyse des diamantenen Totenschädels von Damian Hirst dazu diente, die weiter reichenden Bez&# 252;ge und Bedeutungszusammenhänge auszuloten. Die Psychoanalyse geht den umgekehrten Weg, sie sucht unter diesen Schichten in den brodelnden Tiefen oder stillen Untiefen der Seele die vielfältigen verborgenen, vergessenen, verdrängten Gestaltungen und Umgestaltungen.

VII. SPEKULATIONEN ÜBER EVOLUTIONÄRE URSPRÜNGE VON KUNST
Nach dieser Annäherung an die verschiedenen Formen der kreativen Geistestätigkeit, geht es im letzten Kapitel um die vorgeschichtlichen Wurzeln des Schöpferischen mit der Frage, warum Menschen malen, bildhauern und kunstvolle Objekte herstellen.
Gegen eine solche Skizze der Natur- und Geistesgeschichte lassen sich sehr leicht Argumente anführen, aber man sollte bedenken, dass die „Entschlüsselung" der Natur noch lange nicht an ihr Ende gekommen ist und dass die beklagte „Entzauberung der Natur" zu einer Ideologie wird, wenn man nur mit den Augen von Wissenschaft und Technik oder voreingenommen auf die Natur schaut. Beispielsweise wird in Forschungsberichten bei Vergleichen mit dem Menschen gerne die Stufenleiter des Lebens vergessen, wenn es etwa heißt: „Pflanzen können auch schmecken und hören…" Dabei ist es gerade umgekehrt, wir schmecken und hören, weil Pflanzen und Tiere unsere Urahnen sind. Vor gut 10 Jahren hielten Forscher 95 % des menschlichen Erbguts für „Djunk-DNA", sie waren so unergründlich wie bis dato die  95 % Dunkle Energie und Dunkle Materie im Kosmos; heute erforschen Epigenetiker diesen Anteil des Erbguts mit Neugier und Staunen. Geht man davon aus, dass unser Erbgut gleichsam die ganze Evolutionsgeschichte enthält, dann findet man darin Hinweise, wie Kunstschaffen entstehen konnte.
Eine besondere Herausforderung ist bei dieser Herleitung das Grundsatzproblem, wie man Naturphänomene und -prozesse mit unseren Spracherfindungen angemessen beschreiben, analysierend auf den Begriff bringen, und - im Hinblick auf die Fragestellung - interpretieren kann.

20. Energie und Formung, Transformation, Variation, Komplexität des Materiellen 
Die Bindungskräfte und Bildungskräfte der unbelebten Materie müssen größer gewesen sein als die Kräfte zur Auflösung der chemischen Verbindungen, denn es entstanden mit Elementen und Gesteinen distinkte Formen und Gemische in ständig variierender Modifikation und Transformation, im direkten Austausch untereinander ebenso wie in globalen Kreisläufen; daraus folgten eine Zunahme materialer Vielfalt und organisierter Komplexität, ein zunehmender Wandel von Gestalt und Eigenschaften und dadurch insgesamt ein Zuwachs an Potentialen.
Bei Gold, Silber, Kupfer und anderen Elementen bildeten sich sog. Dendriten: diese Verzweigungsart begegnet uns wieder als Wachstumsprinzip bei den Pilzhyphen, in den Formen von Blattadern, Baumkronen und Sträuchern, wir finden sie bei Korallen oder Fetzenfischen und schließlich bei den Gehirnzellen. - Im übertragenen Sinn haben die Umbildungen des Seelischen eine Verwandtschaft mit den metamorphen Prozessen der Gesteine –

21. Zielgerichtete Kraft, Spezialisierungen und Erfindungen, Wandel und Bewegung, Kommunikation und Lust der Lebendigen
Eine Membran erlaubte den ersten Einzellern Abgrenzung und Durchlässigkeit; die Verschmelzung einer Zelle mit einem anderen Einzeller führte zur Entwicklung von Vielfalt in der Einheit mit Arbeitsteilung; der Zusammenschluss von Zellen in Verbänden erforderte Kommunikation, Interaktion, Zusammenarbeit oder Symbiose; bei weiterer Zunahme der Komplexität erhöhten sich Verschiedenartigkeit und Kreativität der Entfaltungsbewegungen bei Wachstumsprozessen; zudem bildeten sich kompliziert organisierte Formen für spezialisierte Funktionen und Sinnesleistungen zur flexiblen Anpassung an veränderte Umweltreize und ökologische Bedingungen des Biotops; folglich differenzierten sich die Konstruktionen von Wirklichkeit, Bewegungsarten, Neugierverhalten und Lernfähigkeit der Lebewesen. Intentionalität und zielgerichtete Kräfte beförderten leibliche Umbildungsprozesse und führten zur Erfindung von Werkzeugen für die Verbesserung der inneren und äußeren Gegebenheiten.
Für dieses „Surplus" der neuartigen Fähigkeiten und Lebensformen, für dieses Phänomen der Emergenz, bieten Selektion und Anpassung keine hinreichenden Erklärungen, denn Selektion bedeutet (negativ) lediglich das Aussterben der unzureichend Ausgestatteten. Auch der Begriff der Anpassung greift bei diesem evolutionären „Mehrwert" zu kurz: gemessen an der ungeheuren Zahl und Qualität von phantastischen Erfindungen kann Anpassung nicht alleine blinden Zufallsmutationen geschuldet sein. Charles Darwin kam nach seinen Forschungen an Regenwürmern nicht umhin, ihnen „einen gewissen Grad von Intelligenz" zuzubilligen, und nicht nur der Biologe Raoul Francé sprach Anfang des 20. Jahrhunderts angesichts des Erfindungsreichtums der Pflanzen von ihrer „strukturellen Intelligenz".
Mit der ersten Membran etablierte sich eine Grenze zwischen Zellinnerem und Umwelt, die hilfreich oder schädigend sein kann; die menschliche Psyche muss diese Unterscheidung von fremd und eigen erst lernen, Verschmelzung und Abgrenzung wird sie lebenslang mit Schmerz oder Freude austarieren. Also warum sollten der uralte Einzeller Euglena in irgendeiner Pfütze, der störenden sensorischen Reizen ausweicht, oder eine Ranke, die mit vollendet schwungvollen Bewegungen nach einem Haltepunkt sucht, nicht auf ihre Weise Lust– oder Unlustgefühle haben?
Im Gesang der Wale und Vögel mit ihren wechselnden Hits, im Regentanz der Affen oder im graziösen Liebestanz der Seepferdchen können wir unsere Riten und Künste erahnen. Wir finden bei Pflanzen und Tieren die abenteuerlichsten Gestaltungen und trickreiche, ja opulente Arrangements: Die Laube des Laubenvogels ist zweckmäßig für seine Werbeveranstaltung, aber wir können sie auch - mit unseren Worten - als kunstvoll und schön bezeichnen. Wir werden weder vom Laubenvogel, Wal, Seepferdchen oder Affen erfahren, ob sie auch um der Lust am Schöpferischen willen bauen, singen, tanzen und malen, aber wir können es erleben.
Es gibt verzweifelte Anstrengungen, die Pracht der Formen und Farben von Blütenpflanzen oder Tieren der finsteren Tiefsee rein funktional zu erklären, wohl um das Schönheitsempfinden für uns Menschen zu reservieren. Davon auszugehen, dass ästhetisches Empfinden allen Lebewesen eignet, wäre zu kränkend....

22. Betr.: Neues vom Menschen
Intelligenz, Neugier, Forscherdrang, Erfindungslust, zielgerichtete Kraft und Bildungskräfte finden wir allesamt als Triebkräfte der Evolution am Werke; Erforschen und analytisches Ergründen der Welt befriedigt die Wissbegier, weil Erkenntnisgewinn von höher entwickelten Gehirnen belohnt wird. Im Gestaltungsdrang des Menschen zeigt sich, von den frühesten Kulturen bis zu den Künsten heute, das schöpferische Prinzip des Kosmos. –
Ganz und gar menschlich sind die Selbstreflexion, das Nachdenken über Ursprung, Tod und Transzendenz, über einen Sinn des Lebens und des Kosmos. Sie haben Entscheidendes beigetragen zur Entstehung von Mythos, Kult, Religion, Philosophie und Kunst!
Die detaillierte Beobachtung der Natur war lebensnotwendig, aber sie wurde zur gestalterischen Herausforderung, als die ersten Tiere wirklichkeitstreu oder als graphische Kürzel an die Wand gebannt wurden. Wir finden von Anbeginn die Darstellung des Augenscheins wie die Abstrahierung von Wirklichkeitsaspekten, aber erst in den frühen Kulturen tauchen phantastische Erfindungen der Vorstellungskraft auf, als Schreckenszenarien von Erfahrungen, Ängsten, Träumen oder Visionen. Andere Bilder zeugen von der schieren Lust am Fabulieren: manchmal tauchen darin Elemente von nie gesehenen Pflanzen und Tieren auf, als wären sie ein eingeschriebenes Erbe. Aber wenn man psychisch locker lässt, dann lockert sich das feste Gefüge des vernünftigen und logischen Denkens und das Netzwerk der Neuronen bekommt freies Spiel für neue Verknüpfungen, ähnlich wie im Traum. Wenn die entfesselte Phantasie quer durch alle Abteilungen vagabundiert, feuern die Neuronen auch Geistesblitze. -
Mit Blick auf den Kosmos heißt es poetisch: „Wir alle sind Sternenstaub", - irdisch betrachtet sind wir „phantasierende Steine" ...

QUELLEN:

1) Michael Langer, Kunst am Nullpunkt, Werner´sche Verlagsgesellschaft, Worms, 1984, S. 76 ⁄ 77
2) Pierre Cabanne, Gespräche mit Marcel Duchamp, Spiegelschrift 10, Verlag Der Spiegel, Köln, 1972, S. 78
3) Museum Ludwig, Bestandskatalog, Hrsg. Siegfried Gohr, Prestel Verlag, München,1986, S. 110
4) Wiebke Gronemeyer, "Spiel mir das Lied vom Tod". In: "art" 9-2009, S. 42
5) Interview von Silke Hohmann, "Das Sterben ist etwas anderes als der Tod". In: "Monopol" 6-2008, S. 50
6) Claude Lévi-Strauss: Zitate in deutscher Synchronasation. In: "Claude Lévi-Strauss par lui-même" von Bouloi/INA, Arte France/Film, 2008, arte 27. 11. 2008
7) Thomas Wagner, "Genialer Coup, zynisches Investment". In: "art" 12 - 2007, S. 69
8) Flemming Kaul, "Rätselhafte Botschaft der Eiszeit". In: "Illustrierte Wissenschaft", Nr. 3-1998, S. 42
9) Jean-Paul Sartre, Das Imaginäre, Phänomenologische Psychologie der Einbildungskraft, Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg, 1971, S. 51
10) Georg Schmidt, Kleine Geschichte der Modernen Malerei von Daumier bis Chagall, Reinhardt Verlag, Basel, 1955
11) Leonardo da Vinci, Sämtliche Gemälde und die Schriften zur Malerei, Hrsg. A. Chastel, Schirmer & Mosel, München, 1990, S. 323
12) Arthur Koestler, PEN-Rede 1976, "Die Wahrheit der Phantasie". In: DIE ZEIT Nr. 37, 3. 09. 1976
13) Philostratos, Das Leben des Apollonius von Tyana, herausgegeben, übersetzt und erläutert von Vroni Mumprecht, Artemis Verlag, München, 1983, S. 649
14) James Cahill, Die Kunstschätze Asien, Chinesische Malerei, Edition d´Art Albert Skira, Genf, 1960, S.29
15) Andre Breton in: Maurice Nadeau, Geschichte des Surrealismus, Rowohlt TB Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg, 1965, S. 52