von Peter Funken
In: Kunstforum International, Bd. 156, Aug./ Okt.2001Das Wissenschaftskolleg zu Berlin ist die angesehenste Begegnungsstätte für Wissenschaftler und Künstler, die die Stadt zu bieten hat. Die von dem Soziologen Wolf Lepenies geleitete Institution hat ihr Domizil in repräsentativen Villen im Berliner Grunewald. Im zentralen Gebäude des Wissenschaftskolleg in der Wallotstrasse 19 finden in regelmäßigen Abständen Kunstausstellungen statt. Da es dort keinen ausgewiesenen Ausstellungsraum gibt, suchen sich die KünstlerInnen ihre Orte in den Kolloquien- und Lesesälen, im Foyer und der Kantine. So auch Barbara Steppe: ihre Möbelskulpturen, Bilder und Drucke sind über die Räume verteilt ausgestellt, dominieren die Situation oder passen sich dem Ambiente an.
Seit 1997 arbeitet die Künstlerin kontinuierlich an dem Projekt Portraits, wobei sie den Gedanken des Abbildes nicht im Sinne einer physiognomischen Ähnlichkeit oder Wiedererkennbarkeit fasst, sondern Personen anhand ihrer Tätigkeiten beschreibt. Zu diesem Zweck händigt Barbara Steppe der zu porträtierenden Person ein vorgefertigtes Heft aus, in dem sie sieben Tage lang jede Handlung plus Uhrzeit notieren soll. Aus der Summe der Tätigkeiten ermittelt Steppe die für diesen Menschen zentralen Tätigkeitskategorien, errechnet deren prozentualen Anteil aufgrund der zeitlichen Dauer der Aktivitäten und fertigt anhand dieser Informationen ein spezifisches Diagramm an. ähnlich wie bei klassischen Porträts, visualisieren die Tätigkeitsporträts Facetten des Daseins der Dargestellten. Barbara Steppe fokussiert mit ihren Arbeiten bewusst nur eine Woche im Leben der Porträtierten. Das statistische Verarbeiten und Kategorisieren persönlicher Informationen ermöglicht somit den Einblick in einen relativ kurzen Lebensabschnitt.
Barbara Steppes Arbeiten sind nicht an ein einziges künstlerisches Medium gebunden. Ausgangspunkte und Grundlagen für ihre konkreten Arbeiten sind Computerdateien, die die Informationen zur Weiterverarbeitung bereithalten. Solche Dateien übersetzt die Künstlerin in Malerei, in farbige und schwarz-weiße Siebdrucke, die an Grundrisse erinnern, in Architekturmodelle und funktionale Skulpturen (Möbel). Ein weiterer Aspekt des Porträt-Projektes besteht in kurzen Texten, mit denen Barbara Steppe die dargestellte Person beschreibt. Wäre dieser psychologisierende Charakter der Arbeit nicht vorhanden, wäre es vielleicht richtiger von Tätigkeitsprofilen denn von Porträts zu sprechen.
Im Foyer des Wissenschaftskollegs steht dergestalt das 2,5 Meter lange Küchenbord Mathilde, ein in 17 Rayons, Schubladen und Fächer unterteiltes Möbelstück, dessen größter Part (32,32 %) naturgemäß vom Schlafen bestimmt wird. Weitere Kategorien, die sich in den Dimensionen und Proportionen des Küchenbordes abbilden, sind zum Beispiel private Gespräche 1,9 %, nachdenken, träumen 3,01 %, oder Zeitung lesen 3,99 %.
Mathilde S., so vermerkt der Text zur Arbeit, ist 44 Jahre alt. Sie stammt aus Süddeutschland und lebt seit 1982 in Berlin. Sie ist mit einem ausgeprägten Gerechtigkeitssinn ausgestattet. Dieser, gepaart mit einer schwer beeinflussbaren Geradlinigkeit, verstellt zuweilen den offenen Blick auf andere und anderes .... Mit großer Konsequenz verfolgt sie begonnene Vorhaben, ist jedoch manchmal von einer unerklärlichen Abschlußschwäche geplagt. Sie ist ehrgeizig und uneitel. Letzteres könnte hin und wieder der letzten Entschlossenheit bei der Verwirklichung ihrer Pläne im Wege stehen. Ein bisschen mehr Mut und Vertrauen in ihre Ausstrahlung würde sie bei der Verfolgung ihrer beruflichen Ziele bestimmt ein ganzes Stück weiterbringen.
Im Clubraum des Kollegs steht das Bücherbord Reinhard, das Barbara Steppe - wie die anderen Möbelskulpturen - in Stil, Dimension und Farbe für die Wohnung des Porträtierten gebaut hat.
Aus schmucklosem Holz produziert, wird Reinhard derzeit im Wissenschaftskolleg ganz funktional als Zeitungsständer verwendet. Wie bei Mathilde sind auch hier zahlreiche Aktivitäten benannt - von Lebensmittel kaufen, kochen 1,61 % bis zu nachts aufstehen und Musik hören 0,7 % oder warten 0,25 % , wobei Reinhard das Essen mit weiteren Tätigkeiten vermixt: (privaten Gesprächen 6,38 %, Musik hören 1,2 %, telefonieren 0,49 %, alleine essen 2,22 %). Der kinderlose Reinhard, so der Text zum Kunstmöbel, lebt in Prenzlauer Berg, ist in einer Anwaltskanzlei beschäftigt, arbeitet als Prokurist und Geschäftsführer eines kleinen Verlages. Er war Fundi bei den Grünen und Freund des DDR-Dissidenten Rudolf Bahro. Er erlebte die Wende hautnah mit und stellt in jüngerer Zeit häufiger fest, dass er kein Zeitgenosse mehr ist.
Die Verbindung von Gegenstand und Text, Bild und Wort funktioniert in Barbara Steppes Arbeiten perfekt. Es entsteht so etwas, wie ein Fonds von Realität, der aber durchaus fiktionale Momente in sich bergen könnte. Dass Biographie ein Spiel ist, wusste schon Max Frisch, dass Möbel Billy, Benno oder Robin heißen, weiß jeder, der einmal bei Ikea war. Insofern handeln Barbara Steppes Arbeiten von der Gleichzeitigkeit des Realen, Funktionalen, Fiktiven und Spekulativen. Zuweilen - etwa bei den Porträts Dany oder Angela, die in der Kantine des Wssenschaftskollegs hängen -, erspart die Künstlerin den Diagrammen Text und Prozentangaben; dann wirken ihre konstruktiv-flächigen Ölbilder abstrakt und wie in der Nachfolge Piet Mondrians. Ihrer Herkunft nach sind es natürlich Ergebnisse aus Lebensweisen und Statistiken sowie eines Konzeptes, das davon ausgeht, dass der Inhalt die Form bestimmt. Die Ausstellung im Wissenschaftskolleg wurde von Annette Lepenies kuratiert.