Die Fliegenmetapher - über Fliegen, Insekten und andere Wesen.

von Peter Funken


"Er konnte keiner Fliege etwas zu Leide tun ..."
(Ein Mitschüler über Heinrich Himmler)

"Den Göttern gleich' ich nicht! zu tief ist es gefühlt, / Dem Wurme gleich' ich, der den Staub durchwühlt"
(Goethe, Faust).

"Die Fliegen, diese Spatzen unter den Insekten."
(Christian Morgenstern)

 

Insekten

Unter den Menschen haben sie nur wenige Freunde - Fliegen, Spinnen, Käfer und zahlreiche weitere Insekten gelten als Schädlinge, Lästlinge und Ungeziefer, das es zu vertreiben und zu vernichten gilt. Für die meisten, so der Schriftsteller und kenntnisreiche Insektenforscher Ernst Jünger "gilt mehr oder minder der Irrglaube des Augustinus, dass die Welt der Insekten vom Teufel erschaffen sei".1
Augustinus meinte wahrscheinlich mit diesen Insekten die Fliegen. Dem Teufel - auch 'Baal Sebul' genannt - wurde an Bildnissen im Sommer mit Blut geopfert. Dieses lockte die Fliegen an. Polemisch wird der Teufel auch »Herr der Fliegen« genannt.

Das Leben der Insekten scheint mit dem unseren nur wenig zu tun zu haben. Naturgeschichtlich betrachtet sind Insekten bedeutend älter als der Mensch - die Wespe gab es bereits vor über zwanzig Millionen Jahren. Dennoch sind Insekten unsere Verwandten, immerhin ist die Hälfte des menschlichen Chromosomensatzes identisch mit dem der Fliege. Dies ist nicht wirklich erstaunlich, da wir alle von Einzellern abstammen, die die wesentlichen Bausteine einer Zelle bereits besaßen. Die sich entsprechenden Gene bei Mensch, Maus oder Fliege sind in den seltensten Fällen völlig gleich, aber man erkennt immer noch deutlich, dass sie auf eine gemeinsame Wurzel zurückgehen.

Der entomologische Fachterminus für die Eintagsfliege lautet Ephemeroptera und setzt sich aus den griechischen Wörtern "ephemeros" (nur einen Tag lebend) und "pteron" (Flügel) zusammen. Aber nicht jede Fliege ist so kurzlebig. Zu den Fliegen im engeren Sinne gehören Schwebfliegen, Buckelfliegen, Tau- und Dickkopffliegen, Frit- und Halmfliegen, Dung- und Fruchtfliegen, Sarg- und Tse-Tse-Fliegen, Stielaugen- und Güllefliege, natürlich auch die "Vollfliegen", also Stuben-, Stech- und Fleischfliegen sowie Schmarotzer-, Raupen-, Dassel- und Lausfliegen.

Fliegen (Dipteren) zählen zur Überklasse der Sechsfüßler, zur Klasse der Insekten, zur Unterklasse der Fluginsekten, zur Überordnung der Neuflügler, zur Ordnung der Zweiflügler und stellen sogar eine eigene Unterordnung dar. Über 140 000 bekannte Arten der Fliege sind in etwa 188 Familien und zirka 10 000 Gattungen zusammengefasst. Man kann davon ausgehen, dass viele Arten bis heute noch nicht entdeckt wurden. Allein in Deutschland kommen etwa 10 000 Dipteren-Arten vor. Im Normalfall leben Fliegen nur wenige Tage, maximal jedoch 70 Tage. Eine der größten europäischen Dipterenkollektionen mit 80.000 Exemplaren trug Pater Gabriel Strobl (1846 - 1925) im Naturhistorischen Museum des Stift Admont in der Steiermark zusammen. Oft findet man in der Literatur für ein und dieselbe Fliegenfamilie zwei unterschiedliche Namen, z.B. Larvaevoridae und Tachinidae. Die Ursache liegt darin, dass Johann Wilhelm Meigen im Jahr 1800 eine Klassifikation der Dipteren veröffentlichte, die jedoch nicht bekannt wurde. 1803 verfasste er eine weitere Arbeit, in der er neue Benennungen verwendete. Friedrich Hendel entdeckte durch Zufall nach über 100 Jahren die erste Arbeit Meigens, publizierte sie 1908 erneut und setzte die in ihr verwendeten Namen fest. Die Änderungen wurden von vielen Forschern aber nicht anerkannt, so dass lange Zeit unterschiedliche Namen in Gebrauch waren. Obwohl 1963 von der Internationalen Zoologischen Nomenklaturkommission die Namen der zweiten Meigenschen Arbeit festgelegt wurden, übernahm Erwin Lindner noch 1974 in seinem großen Standardwerk die von Hendel verwendeten Begriffe.


Mensch - Fliege - Literatur

Mensch und Fliege gehören zusammen. Stubenfliegen kommen überall dort vor, wo Menschen leben. Fliegen manövrieren äußerst schnell und gewandt, in einer Sekunde können sie eine Strecke zurücklegen, die der eigenen Körperlänge 300 mal entspricht. Aufgrund der Möglichkeit die Stellung ihrer Flügel permanent zu verändern haben Stubenfliegen eine optimale Bewegungsfähigkeit im Raum, die bedeutend größer ist, als die der meisten Insekten.

Der amerikanische Wissenschaftler L.O. Howard berechnete, dass, wenn alle Nachkommen eines Stubenfliegen-Paares überleben und weitere Generationen zeugen würden, sie in nur 6 Monaten eine Population von 5.598.720.000.000 (fast 5,6 Billionen) Fliegen hervorbringen würden. Diese könnte ein Land von der Größe Österreichs mit einer 20 Meter hohe Fliegen-Schicht bedecken ... eine Ekel erregende Vorstellung.

Mit den Insekten beschäftigen sich Experten - Entomologen und andere Spezialisten, doch auch Künstler, Schriftsteller und Maler. Im Insekt haben manche von ihnen einen Zustand oder Aspekt des Humanen erkannt und damit das Fremde, als das Eigentliche erfasst. An ausgewählten Beispielen möchte dieser Text im Folgenden das Verhältnis von Mensch zum Insekt beleuchten.

Franz Kafka verfasste 1915 die Erzählung "Die Verwandlung" und damit die wohl bekannteste Mensch-Insekten-Beschreibung der Literatur. In Kafkas Erzählungen trifft man mehrfach auf die Tiermetapher und so greift die Mutation von beiden Seiten: Aus Gregor Samsa wird in der "Verwandlung" ein Käfer, ein so bezeichnetes "Untier". In seinem "Bericht an eine Akademie" mutiert vice versa ein Affe zu einem sprechenden, empfindenden und denkenden Wesen.

Walter Benjamin wies darauf hin, dass das Menschsein dem Affen im "Bericht an eine Akademie" als ein Ausweg erscheine und dass man das Menschsein kaum gründlicher, als auf diese Weise in Frage stelle kann.2

Demnach müsse die Verwandlung des Gregor Samsa zum übergroßen Käfer eine Art des Rückzuges bedeuten, ein seltsamer Prozess der Rückkehr in etwas Vormenschliches und Ungesellschaftliches. Benjamin hat auch festgestellt, dass Kafka die ihn am meisten interessierenden humanen Verhaltungsweisen oft Tieren beigelegt hat: "Solche Tiergeschichten kann man dann eine gute Weile lesen ohne überhaupt wahrzunehmen, dass es sich hier gar nicht um Menschen handelt. Stößt man dann aber erstmals auf den Namen des Tiers - die Maus oder den Maulwurf - so wacht man, wie mit einem Schock mit einmal auf und sieht, dass man vom Kontinent des Menschen schon weit entfernt ist. So weit, wie eine künftige Gesellschaft von ihm entfernt sein wird. Übrigens ist die Welt der Tiere, in deren Gedanken Kafka die eigenen hüllt, bemerkenswert. Es sind vor allem solche Tiere, die im Erdinnern leben, also Ratten und Maulwürfe, oder wenigstens, wie der Käfer in der "Verwandlung", verkrochen in Spalten und Ritzen existieren. Solche Verkrochenheit scheint dem Schriftsteller für die isolierten, gesetzunkundigen Angehörigen seiner Generation und Umwelt allein angemessen.3 Im "Bodensatz der Kreatur" - so Benjamin - " bei den Ratten, Mistkäfern, Maulwürfen bereitet sich die neue Verfassung der Menschen, das neue Ohr für die neuen Gesetze, der neue Blick für die neuen Verhältnisse".4

Die Fliege, im Fachjargon als "Lästling" bezeichnet, wurde in den 20er und 30er Jahren mehrfach zum Protagonisten von Gedichten, so etwa bei Kurt Tucholsky ("Berliner Herbst", 1929) oder bei Joachim Ringelnatz. In dessen Poem "Ein ganzes Leben" (1934) unterhalten sich zwei Eintagsfliegen - von Ringelnatz als Eheleute vorgestellt - die über ihr vergangenes Leben sinnieren, das ihnen am Ende ihres Lebenstages unendlich lang erscheint. Das Gedicht schließt mit der Strophe:

Fliegenmann gab keine Antwort mehr,
Summte leise, müde vor sich hin:
"Lang, lang ist's her - - lang - - - "

Der hier nahe gelegte Vergleich von Menschen- und Fliegenleben erscheint bei Ringelnatz vordergründig kurios und heiter besinnlich . "Ein ganzes Leben" erschien jedoch 1934, also im Todesjahr des von den Nazis zu diesem Zeitpunkt bereits ausgegrenzten Dichters, in einem seiner letzten Bücher: "Gedichte von einstmals und heute".5 Vor dem Hintergrund seiner schweren, zum Tode führenden Tuberkolose-Erkrankung und des Auftrittsverbots, bekommt "Ein ganzes Leben" einen dunkel verschatteten und fatalistischen Sinn: In dem resignierten "Fliegenmann", so kann darf vermuten, sah Ringelnatz sich selber.

In Robert Musils 1913 verfasstem Prosastück "Das Fliegenpapier" wird die Fliegen-Metapher zu einer bitteren Parabel über die Vermassung und die Ausgeliefertheit der Soldaten im modernen Krieg. Musils Text spricht mit dem Bild der Fliege darüber, wie man "auf den Leim geht". Der Text erschien in der von Musils 1935 herausgegebenen Prosasammlung "Nachlaß zu Lebzeiten", die 1936 durch den Reichsführer SS Heinrich Himmler, vor allem wegen der darin enthaltenen Texte "Das Fliegenpapier" und "Die Affeninsel" verboten wurde:
"Das Fliegenpapier Tangle-foot ist ungefähr sechsunddreißig Zentimeter lang und einundzwanzig Zentimeter breit; es ist mit einem gelben, vergifteten Leim bestrichen und kommt aus Kanada. Wenn sich eine Fliege darauf niederläßt - nicht besonders gierig, mehr aus Konvention, weil schon so viele andere da sind -, klebt sie zuerst nur mit den äußersten, umgebogenen Gliedern aller ihrer Beinchen fest. Eine ganz leise, befremdliche Empfindung, wie wenn wir im Dunkel gingen und mit nackten Sohlen auf etwas träten, das noch nichts ist als ein weicher, warmer, unübersichtlicher Widerstand und schon etwas, in das allmählich das grauenhaft Menschliche hineinflutet, das Erkanntwerden als eine Hand, die da irgendwie liegt und uns mit fünf immer deutlicher werdenden Fingern festhält.
Da stehen sie alle forciert aufrecht, wie Tabuiker, die sich nichts anmerken lassen wollen, oder wie klapprige alte Militärs (und ein wenig o-beinig, wie wenn man auf einem scharfen Grat steht). Sie geben sich Haltung und sammeln Kraft und Überlegung. Nach wenigen Sekunden sind sie entschlossen und beginnen, was sie vermögen, zu schwirren und sich abzuheben. Sie führen diese wütende Handlung so lange durch, bis die Erschöpfung sie zum Einhalten zwingt. Es folgt eine Atempause und ein neuer Versuch. Aber die Intervalle werden immer länger. Sie stehen da, und ich fühle, wie ratlos sie sind. Von unten steigen verwirrende Dünste auf. Wie ein kleiner Hammer tastet ihre Zunge heraus. Ihr Kopf ist braun und haarig, wie aus einer Kokosnuß gemacht; wie menschenähnliche Negeridole. Sie biegen sich vor und zurück auf ihren festgeschlungenen Beinchen, beugen sich in den Knien und stemmen sich empor, wie Menschen es machen, die auf alle Weise versuchen, eine zu schwere Last zu bewegen; tragischer als Arbeiter es tun, wahrer im sportlichen Ausdruck der äußersten Anstrengung als Laokoon. Und dann kommt der immer gleich seltsame Augenblick, wo das Bedürfnis einer gegenwärtigen Sekunde über alle mächtigen Dauergefühle des Daseins siegt. Es ist der Augenblick, wo ein Kletterer wegen des Schmerzes in den Fingern freiwillig den Griff der Hand öffnet, wo ein Verirrter im Schnee sich hinlegt wie ein Kind, wo ein Verfolgter mit brennenden Flanken stehenbleibt. Sie halten sich nicht mehr mit aller Kraft ab von unten, sie sinken ein wenig ein und sind in diesem Augenblick ganz menschlich. Sofort werden sie an einer neuen Stelle gefaßt, höher oben am Bein oder hinten am Leib oder am Ende eines Flügels.
Wenn sie die seelische Erschöpfung überwunden haben und nach einer kleinen Weile den Kampf um ihr Leben wieder aufnehmen, sind sie bereits in einer ungünstigen Lage fixiert, und ihre Bewegungen werden unnatürlich. Dann liegen sie mit gestreckten Hinterbeinen auf den Ellbogen gestemmt und suchen sich zu heben. Oder sie sitzen auf der Erde, aufgebäumt, mit ausgestreckten Armen, wie Frauen, die vergeblich ihre Hände aus den Fäusten eines Mannes winden wollen. Oder sie liegen auf dem Bauch, mit Kopf und Armen voraus, wie im Lauf gefallen, und halten nur noch das Gesicht hoch. Immer aber ist der Feind bloß passiv und gewinnt bloß von ihren verzweifelten, verwirrten Augenblicken. Ein Nichts, ein Es zieht sie hinein. So langsam, dass man dem kaum zu folgen vermag, und meist mit einer jähen Beschleunigung am Ende, wenn der letzte innere Zusammenbruch über sie kommt. Sie lassen sich dann plötzlich fallen, nach vorne aufs Gesicht, über die Beine weg; oder seitlich, alle Beine von sich gestreckt; oft auch auf die Seite, mit den Beinen rückwärts rudernd. So liegen sie da. Wie gestürzte Aeroplane, die mit einem Flügel in die Luft ragen. Oder wie krepierte Pferde. Oder mit unendlichen Gebärden der Verzweiflung. Oder wie Schläfer. Noch am nächsten Tag wacht manchmal eine auf, tastet eine Weile mit einem Bein oder schwirrt mit dem Flügel. Manchmal geht solch eine Bewegung über das ganze Feld, dann sinken sie alle noch ein wenig tiefer in ihren Tod. Und nur an der Seite des Leibs, in der Gegend des Beinansatzes, haben sie irgendein ganz kleines, flimmerndes Organ, das lebt noch lange. Es geht auf und zu, man kann es ohne Vergrößerungsglas nicht bezeichnen, es sieht wie ein winziges Menschenauge aus, das sich unaufhörlich öffnet und schließt."6

Musils "Fliegenpapier" gehört in der bewussten Übertragung von animalischen und menschliche Verhaltensweisen und Gefühlslagen zu einem der radikalsten Aufklärungstexte des beginnenden 20. Jahrhunderts. In ihm wird wie selbstverständlich die Leidensfähigkeit alles Lebendigen vorausgesetzt, insofern wird das Fliegenpapier Marke Tangle-Foot zu einem Vernichtungslager en miniature und einer bösen Vorahnung für alle kommenden KZs und Tötungsmaschinen. Musil führt den Vergleich von Mensch und Tier im Sinne eines einfühlenden, humanistischen Gedankens aus, und dies, weil der Dichter nicht wegsieht, sondern seine Beobachtungen präzise mitteilt. Damit steht er an einem komplett anderen Wahrnehmungsort als die nazistischen Ideologen, die mit dem Mensch-Tier-Vergleich - dem Vergleich von Ungeziefer, Ratten und Läusen mit geistig Behinderten oder den Juden - die Legitimation für ihre Ausrottung ableiteten.

"Die Fliegen" (Les Mouches) ist ein von Jean-Paul Sartre verfaßtes Drama in drei Akten. Der Stoff entstammte einem griechischen Mythos. In Sartres Drama geht es um die Bedeutung von Freiheit, Hoffnung, auch um Selbsteinsicht und Reue. Die Uraufführung fand in Paris am 3. Juni 1943 im Théâtre Sarah-Bernhardt statt, das zu diesem Zeitpunkt von den Nazis arisiert worden war und Théâtre de la Cité hieß. Die deutschsprachige Erstaufführung war am 12. Oktober 1944 im Zürcher Schauspielhaus, die Erstaufführung in Deutschland am 7. November 1947 in den Städtischen Bühnen Düsseldorf.

Unbegriffen von der deutschen Zensur proklamierte Sartre mit dem gewagten Résistance-Drama den Widerstand gegen die Besatzungsmacht und das Vichy-Regime in Frankreich. In einem später geschriebenen Vorwort betonte der Autor, dass er der nach der militärischen Niederlage verbreiteten nationalen "Selbstverleugnung" entgegenwirken und den Franzosen ihre Erniedrigung bewusst machen wollte. Der in "Les Mouches" entwickelte Freiheitsbegriff steht in engem Zusammenhang mit der Existenzphilosophie Sartres, wie sie etwa gleichzeitig in seinem philosophischen Hauptwerk "L'être et le néant" entworfen wird.7


Klassifizierungen und Bienen auf dem Holzweg

Die klassifizierende Wahrnehmung des Unbekannten und Fremden, wie sie in der entomologischen Wissenschaft betrieben wird, führte im 19. Jahrhundert zu komplexen Ordnungssystemen und zu Kategorisierungen, die auf die Darwin'sche Naturwissenschaft zurückgehen. In der Miss- und Umdeutung der Erkenntnisse Darwins und einer simplen Übertragung auf Menschen und die menschliche Gesellschaft, entstanden weit reichende Fehlinterpretationen, die in den Ideologien von NS und Kommunismus auf das Grauenhafteste Gestalt annahmen und für Millionen von Menschen den Tod bedeuteten.

Das Interesse an der Entomologie ist relativ jung, es setzte im Barock ein, als Ausdruck eines neuen, methodisch-wissenschaftlichen Beobachtungsvorgangs. "Der Typus des Sammlers beginnt sich zu wandeln", schreibt Ernst Jünger, "die Einzelformen und auch die Kuriositäten befriedigen ihn nicht mehr. Die Vorliebe richtet sich auf Dinge, die variieren, obwohl sie die Form halten, auf Schneckenhäuser, Muscheln, Tulpen."8

Zuerst Linné und später Darwin, legten die bis heute wirksamen Kategorisierungsprinzipien in den Naturwissenschaften an und überwanden die früheren Ordnungsversuche, die sich "gegen das Chaos der andrängenden natura naturans wandten, von Aristoteles bis zum Älteren Plinius, von Albertus Magnus bis zu Geßner und Swammerdam. Bis dahin glichen auch die besten Übersichten einer Art von Gärtnerkatalog."9

Im 19. Jahrhundert erweiterte sich das Forschungsgebiet der Entomologie in der Feldforschung und in musealen Sammlungsaktivitäten: "Neben den Vögeln gelten die Insekten als Musterbeispiele der Variabilität", bemerkt Jünger und verweist auf ein, mit dem Anstieg der zunehmenden Verwissenschaftlichung erkennbares Absinken in der Wahrnehmung des natürlichen Wunders: "Dieser Anstieg, diese Befruchtung, der ein Absinken, ein Schwund des Eros, ein Sich-Verirren auf Holzwegen folgt, ist übrigens nicht nur hinsichtlich der Anatomie und Morphologie der Tiere zu beobachten. Auch ihr Verhalten wird mit schärferem und zugleich kälterem Auge verfolgt, und immer mit messenden, quantifizierenden, statistischen Absichten. Das ist ein Symptom ganz allgemeiner Schwächung, wachsender Impotenz, die sich ebenso fruchtlos mit jedem Verhalten, auch dem des Menschen beschäftigt, mit seinem "behaviour". Wie aber nach Aristoteles ein Haus mehr ist als Lehm, Holz und Ziegel, der Körper mehr als Blut, Muskel, Knochen, so ist auch sein Grundverhalten - Ethos - mehr als ein Bündel von Reaktionen, die aus einem Fragebogen abzulesen sind."10

Doch mit der Zurichtung der Natur im Gen-Labor wird gerade erst richtig begonnen. Die beseelte Wunderwelt der Natur, in der sich die forschende Erkenntnis vormals in einem staunenden "Das bist Du" wieder entdeckte, scheint endgültig vorbei. Mit dem Aussterben der Arten, wie wir es derzeit beobachten, wird sich dann das "Buch der Natur" mehr und mehr für uns schließen.

Existentiell erfahrbar wird solcher Verlust mittlerweile mit dem Verschwinden der Bienen. Mehr als ein Drittel ihrer komplexen und immens wichtigen Spezies ist seit 2006 wahrscheinlich infolge von Viruserkrankungen eingegangen. Dies mit unabsehbaren Folgen für die gesamte Natur, also auch für die Menschen, denn die Bestäubung durch Bienen ermöglicht erst die Fruchtbarkeit und Fortpflanzung fast aller Blumen, Pflanzen und Bäume. Fällt die Tätigkeit der Biene weg, gibt es keine Früchte, kein Obst oder Gemüse. Erst stirbt die Biene, dann der Mensch, so ist zu vermuten. Ersatz - so einige Technik gläubige Wissenschaftler - könnte durch genetisch veränderte oder durch mechanische Bienen entstehen, doch sind dies nur Spekulationen ohne echte Überzeugungskraft. Dies wären - um Ernst Jünger noch einmal zu zitieren - "Gläserne Bienen". So lautete jedenfalls der Titel eines Zukunftsromans des Schriftstellers aus dem Jahr 1957. Er behandelt das Thema der totalen Automatisierung von Produktion und damit einhergehend der Gesellschaft. In "Gläserne Bienen" werden Menschengleiche Roboter hergestellt und kleine, Gift speiende Insekten, die Bienen ähneln.

Eine besondere Bedeutung verband Joseph Beuys mit der Biene, die auch ein Zeichen der Sozialisten ist. Sie steht für Fleiß, Arbeitseifer und Ordnung und wurde in der Regentschaft Napoleons I. in Frankreich den so genannten "Guten Städten" als Wappensymbol verliehen. Beuys zeigte seine Installation "Honigpumpe am Arbeitsplatz" erstmals auf der Documenta 6, 1977 im Museum Fridericianum in Kassel unmittelbar neben dem Büro der Freien Internationalen Universität (FIU). Es handelte sich um eine über mehrere Räume verteilte technische Anordnung, die 150 kg Honig durch ein umlaufendes Schlauchsystem pumpte. Neben der Honigpumpe rotierte eine Kupferwalze in 100 kg Margarine. Im Werk des Künstlers soll Honig auf soziale Wärme und auf Energie verweisen, Wachs auf Kristallines und das natürliche Bauen. In der Biene und ihrem Staat erkannte der Künstler ein Vorbild für gesellschaftliches und staatliches Zusammenleben der Menschen, insbesondere für ein gemeinschaftliches Zusammenwirken und disziplinierte Arbeitsteilung. An der Übertragung des Bienenstaatmodells auf die menschliche Ordnung gab es in den letzten Jahren berechtigte Kritik, denn sie basiert allzu deutlich auf einem biohumanistischen Konzept, in dem jedem einzelnen ein fester Platz zugewiesen wird, an dem er arbeiten und wirken soll.11


Anmerkungen:

1 Ernst Jünger: Subtile Jagden, Sämtliche Werke, Essays Bd. IV, Stuttgart
1980, S. 335.


2 vgl. Walter Benjamin: Über Kafka, Frankfurt a. M. 1981, S. 119.


3 ebd. S. 131 f.


4 ebd. S. 126.


5 "Ein ganzes Leben" in: "Gedichte von einstmals und heute", Berlin 1934.


6 Robert Musil: "Das Fliegenpapier" in: "Nachlaß zu Lebzeiten", Reinbek bei
Hamburg 1963, zuerst 1935.


7 vgl. dazu Richard Mellein: Kindlers neues Literatur-Lexikon, Bd 14, S. 802.


8 Ernst Jünger, ebd. S. 108.


9 Ernst Jünger, ebd. S. 109.


10 Ernst Jünger, ebd. S. 114.


11 vgl. dazu Frank Gieseke und Albert Markert: Flieger, Filz und Vaterland, Berlin
1996, S. 209 ff.


top