Über Paradoxie und Hermetik in der Malerei Stefan Hönerlohs und das fragwürdige Verhältnis der Menschen zu ihren Räumen

von Peter Funken



Auf diese Stadt, so erzählt Stefan Hönerloh, sei er bereits mit sechzehn Jahren gestoßen, sie sei ihm eingefallen, er habe sie imaginiert - und er sagt weiter, er habe eine ungefähre Vorstellung von ihren Dimensionen und dass sie sehr groß und alt sei. Dort würden auf die alten Gebäude neue getürmt, denn es sei verboten, das Alte abzureißen. Es sei europäische Stadt, in ihr wäre die Zeit stehen geblieben. In seinen Bildern sähe man die Gebäudekomplexe wie im Zeitraffer, eine Sekunde sei so wie hundert Jahre in der Wirklichkeit.

Was aber ist die Wirklichkeit, und welche Wirklichkeit begegnet uns in der Malerei Stefan Hönerlohs? Natürlich ist es eine vom Künstler erdachte Wirklichkeit und wir erleben seine Malerei, die uns Hönerloh in äußerst realistischer Manier und in Hinblick auf die Architekturdetails völlig korrekt auf den Flächen seiner Bilder anbietet, in einer Mischung aus Faszination und Irritation, zugleich als etwas Vertrautes und doch ungewöhnlich Fremdes, Phantastisches, sogar Beklemmendes. Dass sich solche Empfindungen einstellen, liegt an der Illusionsqualität von Stefan Hönerlohs Kunst, und auch an unserer Gier nach illusionistischen Bildern.

Die Architekturkonglomerate, die Hönerloh herstellt sind Idealveduten. Sie bestehen gänzlich aus verfallenen und doch haltbaren klassizistischen Fassaden, die anscheinend von Wind und Wetter und vor allem durch die verflossene Zeit gestaltet worden sind, sie bestehen des weiteren aus Treppen, Durchgängen, Gassen und Straßen, die alle deutliche Spuren des Verfalls zeigen. Auch ist diese Stadt menschenleer, sie zeigt keine Zeichen irgendeines Lebens, so als seien die gigantischen Gebäudekomplexe schon seit langem unbewohnt und wie von "allen guten Geistern" verlassen.

Aber stimmt dies wirklich, hat der Zahn der Zeit tatsächlich diese Mega-City gnadenlos angefressen oder sah sie nicht schon immer so aus, wie sie uns Hönerloh präsentiert, also vollends von Staub, Ruß und Schmutz patiniert, unendlich einsam und aufgegeben, also zum Ruin verdammt? Oder ist es anders, vielleicht so, dass hier schon von Anbeginn die Zeit still gestellt war und es in dieser Stadt gar keine Zeit gab, und dass Stefan Hönleroh somit im Raum seiner Illusionswelt eine Welt ohne Zeit sichtbar macht - und damit im Sinne barocker Vorstellungen tatsächlich die Ewigkeit abbildet oder das, was wir dafür halten - denn die Ewigkeit ist doch etwas Unvorstellbares und sogar Unmenschliches, dem Menschen nicht Zumutbares, weil doch alles Menschliche seine Zeit hat und endlich dem Untergang geweiht ist.

Für Menschen zu begreifen und in Grenzen vorstellbar ist hingegen das Paradoxe und sogar das Außerirdische, und von letzterem handeln nicht nur die Religionen und die Raumfahrt, sondern ebenso das Phantastische in Kunst und Literatur, etwa im Sinne von Science Fiction, der Pitura Metafisica oder der surrealen Malerei.

Die Geschichte des Phantastischen begann im Manierismus und der Barockkunst. Nicht von ungefähr fällt einem beim Betrachten der Werke Hönerlohs die Serie der Kupferstiche "Carceri d'Invenzione", die "erfundenen Gefängnisse", des römischen Künstlers Giovanni Battista Piranesi ein, deren erste Mappe 1745 in Rom veröffentlicht wurde. Rom mag hier das Stichwort geben - es ist die Stadt Piranesis, der vor allem als Schilderer der antiker Stadtansichten bekannt wurde, die "Carceri" sind hingegen Phantasien, die in seinem Kopf entstanden. Rom ist ebenfalls die Stadt, die Stefan Hönerloh in seiner Jugend kennenlernte und optisch aufgesaugt haben muß, und die demzufolge auch partiell das Vorbild für seine phantastische Stadt abgeben konnte. Rom - der Gedanke drängt sich auf - wird die "Ewige Stadt" genannt, weil ihre Geschichte seit der Antike und dem frühen Christentum, seit Renaissance und Barock bis in die Gegenwart und Glaubenszukunft reicht, und dies immer vor prächtiger und gewaltiger Kulisse. Von daher ist Rom tatsächlich zeitlos, ähnlich wie die Mega-City, die Stefan Hönerloh in seiner Malerei erfunden hat. Auch in seinen phantastischen Imaginationen gehen die Uhren in einem geistigen Sinne anders, denn von der Orientierung und der Perspektive her ist die von ihm vorgestellte Wirklichkeit sowohl in die Vergangenheit wie auf Zukünftiges gerichtet, und liegt deshalb außerhalb von realer Geschichte und Zeit. Dies alles hört sich an wie im Traum, erscheint irrational und ist doch begreifbar und wird in der Vorstellung sogar mächtig.

Angesichts Stefan Hönerlohs Malerei stellt sich ebenfalls die Frage, wer denn der Besucher dieser Stadt ist, dessen Blick wir folgen und der in eine unheimliche Stille einbricht, in der kein Vogel singt und keine Wolken fliegen. Fraglos - der Künstler führt uns mit seiner Wahrnehmung in seine Welt ein und doch bleibt vollends offen, wie denn dieser Sehende in solche Straßen, vor diese Gebäude oder auf jene Galerien gelangt ist. Immer fehlt hier die Vorgeschichte, der Bericht von der Anreise und das erste staunende Gewahrwerden dieser gigantischen Architekturen. Unvermittelt sieht der Betrachter dieser Bilder eine Welt, die er zu kennen meint, die sich aber von der der eigenen Erfahrung Grund legend unterscheidet. Wer also ist dieser Besucher, durch wessen Augen sehen wir in die Tiefe der Straßenschluchten und auf eine steil aufragende, klassizistisch geordnete Fassade? Bestimmt ist dies kein Tourist im üblichen Sinne, viel eher einer, der sich verlaufen hat und dabei immer weiter in ein Labyrinth vordringt, dessen Ende vielleicht am Ende der Welt liegt. Auch erkennt man, dass die perspektivische Situation in diesen Bildern eigenartig verschoben scheint und bei genauem Hinsehen begreift man, dass die Wahrnehmung des Raums zwar nur um weniges, aber doch genug verschoben ist, um stutzen zu machen. Tatsächlich arbeitet Hönerloh in seinen Stadtprospekten oft mit zwei Fluchtpunkten, so dass der Raum des Ereignisses nichts Eindeutiges besitzt, sondern auf eine Weise in sich verschränkt scheint, die den vom Künstler angestrebten phantastisch-illusionistischen Eindruck miterzeugt. Im Dreidimensionalen würden solchen Konstruktionen kaum funktionieren, doch sind sie in der Zweidimensionalität der Bildfläche - wie man erkennt - glaubhaft dargestellt und bewirken im Kontext dieser gemalten Wirklichkeit eine feine, aber nachhaltige Irritation, die ihre Paradoxie bedingt und steigert.

Stefan Hönerloh zeigt in seiner Kunst eine versteinerte Welt und eine paradoxe Wirklichkeit - paradox vor allem deshalb, weil uns diese Stadt im gleichen Moment tot und lebendig erscheint. Lebendig ist sie aber nur durch die Anwesenheit des fremden und geschichtslosen Betrachters, der für uns stellvertretend und wie ein Zeuge, mit seinem Blick eine Vorstellung von der Unendlichkeit des Raumes und der Ewigkeit der Zeit liefert. Aber ist nicht selbst diese Vermutung paradox und in gewisser Hinsicht anmaßend, selbst wenn sie in guter Absicht geschieht, denn wer von uns Sterblichen kann wirklich wissen, was das bedeutet - Unendlichkeit. Und so könnte man meinen, dass einer dieser Sterblichen - ja vor allem Sterblichen! - das Glück und die Qual hat, eine Stadt der Götter zu besuchen, eine Stadt in ewig währender Agonie, in der die Unendlichkeit oder zumindest ein kleines Stück von ihr, erahnbar wird.

Wenn dies stimmt, dann haftet der Stadt Hönerlohs etwas von einer unfaßbar großen Nekropole an - sie wäre dann Friedhof und letzte Ruhestätte für die Zeit und für den Raum. Stefan Hönerloh besitzt den Schlüssel zu diesem Ort und es ist sein Verdienst, dass er unsere Augen für diese jenseitige Wirklichkeit öffnet, denn so weit und so groß seine Idealveduten auch sein mögen, so sind es doch eigentlich nach Außen gebrachte Spieglungen aus den Bereichen des Innersten. Und doch - ein weiteres Paradox - zeigen Hönerlohs Recherchen im Unterbewusstsein zugleich Gebäudekomplexe und Stadtansichten, deren Existenz sowohl möglich als auch wahrscheinlich ist - etwa in den Ruinen der Antike, in Renaissancestädten, selbst in den Hinterhöfen von Berlin oder Wien.

In Hönerlohs Malerei begegnen uns Abenteuer und Schwermut der Malerei. In seiner illusionistischen Kunst bestätigt sich ein Gedanke des modern-phantastischen Autors Jorge Luis Borges, der 1969 sagte: "Es gibt kein Werk, das nicht seiner Zeit angehörte" und damit feststellte, dass die Moderne bedeutend mehr Facetten und Gelenkpunkte aufweist, als man langläufig vermutete. Hönerlohs Kunst ist eine Kunst für die Gegenwart und sie entsteht unter ihren Bedingungen. Dass sie ein Stück subjektiver Gelehrtheit in sich trägt, macht ihre Wahrnehmung vielleicht nicht einfacher, mindert jedoch nicht die Notwendigkeit ihrer Zuordnung, als ein bedeutendes Kapitel innerhalb des Komplexes einer offenen Moderne. Dies sei gesagt im Sinne eines Diskurses auf das Phantastische und das Magisch-Hermetische als etwas verborgen Eingeschlossenes und als Möglichkeit der Kunst im 21. Jahrhundert.

Bei Borges stößt man auf Gedanken, die die Phänomene der Bilder Stefan Hönerlohs poetisch bezeichnen - natürlich ohne dass dieser Stefan Hönerlohs Malerei gekannt hätte - aber wie sollte man die folgende Zeilen anders deuten und was wollen sie erklären, wenn nicht die Berechtigung zur Selbsterfindung und der Freiheit der Erkenntnis in subjektiver Anschauung:
"Manchmal sieht uns am Abend ein Gesicht
Aus dunkler Tiefe an in einem Spiegel:
Die Kunst muß sein wie dieser Spiegel,
Enthüllend uns das eigene Gesicht." (1)

1)
vgl. Jorge Luis Borges Gedicht "ARS POETICA", in "Borges und ich", Gedichte und Prosa, München 1963, S. 121, Ersterscheinung: Buenos Aires 1960, dt. Übersetzung Karl August Horst.

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