von Peter Funken
Wer Inge ist, weiss heute keiner mehr so recht, dass sie aber Ideen hat, ist unübersehbar. Die Künstlergruppe "Inges Idee" wurde 1993 von vier Künstlern gegründet, die zu dieser Zeit ihren Lebens- und Arbeitsmittelpunkt in Berlin hatten: Hans Hemmert, Axel Lieber, Thomas Schmidt und Georg Zey.
"Inges Idee" versteht sich als Gruppenprojekt, das von Diskussionen und praktischer Realisierung handelt, wobei jeder der vier Künstler einen wichtigen Part spielt. Spielfeld der Gruppe ist der öffentliche Raum mit seinen speziellen Bedingungen. Mit ihren plastischen Interventionen agiert "Inges Idee" in den unterschiedlichsten Innen- und Außenräumen und wirkt dabei in den Zwischenräumen des Bewusstseins, an den Nullstellen von Identität und Öffentlichkeit, in den Grenzbereichen von Irritation und Camouflage. Plastische Arbeiten der Künstlergruppe finden sich heute in Parks und Schulen, vor Banken, auf Höfen und in Foyers, auf den Geländen von Ministerien, JVAs und Kasernen.
Die Zusammenarbeit der Künstler bezieht sich auf ein klar definiertes Aufgabenfeld. Bei künstlerischen Wettbewerben der öffentlichen Hand oder privater Bauherren macht "Inges Idee" Vorschläge, die bei Zustimmung realisiert werden. Diese Vorschläge sind jeweils für einen spezifischen Ort konzipiert und für eine permanente Aufstellung gedacht. Dokumentiert und publiziert werden die realisierten Arbeit in Ausstellungen, Fachzeitungen und Katalogen. Die Arbeitsweise der Gruppe lässt sich vielleicht am besten mit der von Musikern vergleichen, die sich Projekt bezogen treffen und als Band mit einem spezifischen Sound in Erscheinung treten, ansonsten aber als Solisten eigene Wege gehen. In einer den Surrealisten entlehnten Diskussionstechnik werden bei den Arbeitstreffen der Künstler alle möglichen Antworten auf den Tisch gelegt und oft tagelang miteinander gekreuzt, vermengt, geschüttelt, gesiebt, bis sich einige wenige Lösungen herauskristallisieren und als interessant, dem Ort und seinen Nutzern angemessen erachtet werden. Das Ergebnis dieser scheinbar chaotischen Entwurfsmethode ist neben diversen Realisationen im In- und Ausland ein über die Jahre gewachsener Ideenpool, der sich aus einer Vielzahl formal sehr unterschiedlicher Entwürfe zusammensetzt.
Nach der Durchführung und Fertigstellung einer Arbeit zeigt sich dem Publikum immer ein anderer Ort als der zuvor bekannte, denn "Inges Idee" schafft an langweiligen, tauben und toten Stellen im öffentlichen Raum etwas Unvorhersehbares, Markantes, Irritierendes, das eine konkrete Beziehung zur vorgegebenen Situation eingeht.
Das Öffentliche als öffentliches Interesse eines engagierten Bürgertums, für das zu kämpfen und zu streiten sich lohnt, ist mittlerweile einer eher passiven Haltung gewichen. Öffentlichkeit besteht heute leider viel zu häufig im konsumierenden Zuschauen und der Beteiligung an Ted-Umfragen. Vor dem Hintergrund dieser Problematik - zurecht spricht man von einer Krise des öffentlichen Raumes - entwickelt "Inges Idee" immer wieder überraschende Vorschläge und reflektiert dabei Voraussetzungen und Bedingungen einer Kunst im öffentlichen Raum. Dies geschieht in konkreten Konzeptionen, die oft als Angebot zur Nutzung und Interaktion stattfinden und dabei bekannte und akzeptierte Formen des Alltags und der Kunst zitieren: So entwickelte "Inge" etwa auf dem Gelände der Bundesgartenschau in Potsdam - einem ehemaligen Militärgelände - im Jahr 2001 ein Basketballfeld in Originalgröße. Die Unebenheiten und das Gefälle des vorgefundenen Terrains wurden nicht eingeebnet. Das Spielfeld nimmt die Höhen und Tiefen der vorgefundenen Topographie auf und legt sich gleich einem nassen Handtuch über das Gelände. Abgesehen von der bewegten Oberfläche entspricht das Basketballfeld einem professionellen Spielfeld und ist durchaus benutzbar.
Mit der Transformation eines bekannten Spielfelds in eine Landschaft und umgekehrt entsteht ein materialisiertes Paradoxon. Die ausdrücklich zu benutzende Skulptur verweist auf die militärische Geschichte des Ortes und deutet dessen frühere Funktion im Sinne einer Freizeitnutzung um. Eine solche Bedeutungsverschiebung lässt das Basketballfeld dann auch als Kunstwerk erscheinen, als eine nach geistigen - nicht allein nach sportlichen - Regeln funktionierende Vorlage.
Die Entwürfe der Künstlergruppe, von denen bis heute 25 realisiert wurden, sind durch ihre Interaktivität und leichte Schieflage zum so genannten Normalen charakterisiert. Mit ästhetischem Witz und technischer Präzision unterlaufen "Inges Ideen" gängige Vorstellungen und routinierte Alltagssituationen und implementieren somit etwas Abweichendes und Kommentierendes am Ort des Geschehens. Oft schwingt in den Arbeiten ein ironischer Unterton mit: etwa dann, wenn die Künstler eine banale Straßenlaterne, die sich wie der Zeiger einer Uhr um die eigene Achse dreht, mitten auf den Bahnhofsvorplatz der schwedischen Stadt Linköping stellen. Dieser Platz lässt eine klassische Skulptur erwarten, etwa eine Figur auf einem Sockel. Der Entwurf von "Inges Idee" löst diesen Anspruch auf den ersten Blick ein, weil der Ort durch den vertikale Peitschenmast besetzt wird: Auf der Bühne erscheint aber nicht die Hauptperson, sondern der Beleuchter - und dieser dreht sich wie ein Uhrzeiger!
Am so genannten Überschwemmungsgraben auf dem Gelände der Marinetechnikerschule in Parow / Mecklenburg, hat 2003 "Inges Idee" an einer abschüssigen Böschung eine große, farbige Kunststoffskulptur platziert, die den Titel "Im selben Boot" trägt. Die in Bootsbautechnik (GFK) gefertigte zweifarbige Skulptur erinnert an ein Spielzeugschiff, welches auf die Größe eines realen Bootes katapultiert wurde. Die Skulptur ist aus einem Guss mit hermetisch verschlossener Oberfläche gefertigt. Sie wirkt unsinkbar wie eine Boje. "Im selben Boot" vereint Phänomene und Parameter, die sowohl in der Seefahrt wie auch in der Bildhauerei von zentraler Bedeutung sind. Fragen nach Balance, Ausrichtung, Standortbestimmung und Peilung werden in beiden Betätigungsfeldern angewandt. Allein die Tatsache, dass ein Schiff mit seinem Rumpf für das horizontale, instabile Element Wasser gefertigt wurde, verdeutlicht, dass mit dem Platzieren eines solchen Objektes an Land, die Frage nach Sockelung und Austarierung, nach dem Funktionieren einer "Dropsculpture" ungewohnt gestellt wird.
Das Bootobjekt erinnert zudem an die erste Begegnung, die jedes Kind mit einem Boot gemacht haben dürfte, nämlich beim Spielen in der Badewanne oder am Strand. Dies beschreibt einen Zustand, in dem das Lernen noch frei und uncodiert war, wo es um spielerische Aneignung von Phänomenen wie Schwimmen, Untertauchen, Stabilität und Instabilität ging.
In der Justizvollzuganstalt Cottbus-Dissenchen positionierte "Inges Idee" 2002 zwischen den beiden Sportplätze in einer mit Bäumen bepflanzten und begrünten Ruhezone zwei mit "Sprinter" bezeichnete Skulpturen, die von der Ästhetik zeitgenössischer Sportschuhe abgeleitet sind. Diese Skulpturen, die aus den Silhouetten von Sportschuhen entwickelt wurden, scheinen um sich selbst zu rotieren, auf der Stelle, wie ein Kreisel. Ihr immanentes Tempo wird durch die klare farbige Fassung noch weiter akzentuiert. Die "Sprinter" können von den Inhaftierten ganz praktisch benutzt werden, da sie wie Sitzmöbel funktionieren. Somit dienen die "schnellen Möbel" zum Ausruhen, Kommunizieren und als "Tribüne" beim Betrachten des Geschehens auf den Sportplätzen. Auch ist in dieser Arbeit der Widerspruch von Bewegung und dem Verharren an einem Ort verkörpert, den die Inhaftierten täglich erfahren.
An einer Ecke der modernen Rathausarchitektur der Stadt Heidenheim/Breisgau hat "Inges Idee" im Jahr 2001 in Höhe des dritten Stocks einen großen Edelstahlring im Durchmesser von zirka 2,4 m montiert. Dieses "Piercing" durchbricht die Hauswand, um auf der anderen Seite der Hausecke wieder hervorzutreten und sitzt quasi wie ein Ohrring im Haus. Dem eher rabiaten Eingriff in die Bausubstanz steht die stolze, ungewöhnliche Schmückung mit einem makellos gearbeiteten, polierten Edelstahlring gegenüber.
Körperschmuck ist heutzutage ein alltägliches und weit verbreitetes Phänomen. Tätowierungen und Piercing gehören mittlerweile zum täglichen Straßenbild. Entspricht die Tätowierung eher einer Malerei auf dem Körper, so ist das Piercing als Perforation von Körpervolumina eindeutig ein bildhauerischer Akt. Dieser gewaltvolle oder Lust betonte Akt, normalerweise am privaten Körper durchgeführt, wurde von "Inges Idee" am architektonischen Baukörper im öffentlichen Raum vollzogen, in derselben Mischung aus Gewalttätigkeit und Dekoration, sowie als Identität stiftende, nach außen weisende Handlung.
Der bildhauerische Akt des Durchlöcherns der trennenden Haut des Gebäudes verschiebt den intimen Akt des Körperschmückens in den Raum von bildender Kunst und Architektur. Der Ring weist sowohl nach außen (öffentlicher Raum) als auch nach innen (privater Raum) und vereint somit diese beide Sphären. Letztlich wird mit dieser Arbeit die konkrete Gleichsetzung von leiblichem Körper, als Ort von Intimität, Lust und Privatheit und der Architektur als öffentlichem Bau-Körper thematisiert. Eine vergleichbare Arbeit entstand ebenfalls für die JVA Cottbus-Dissenchen realisiert.
Ein in den letzten Jahren entwickelter Skulpturentyp zeigt gedehnte, überlange Figuren. 2002 entstand für den Vorplatz einer Bank in Luxemburg der "Lange Banker". Im letzten Jahr realisierte die Künstlergruppe vor der Volksbank in Bremerhaven-Wulsdorf mit dem so genannten "Flaneur" eine zirka 5,50 m hohe Plastik, die einen extrem in die Länge gezogenen Gartenzwerg zeigt. Die Plastik ist so ausgerichtet, dass der "Flaneur" auf den Eingang der Bank zusteuert. Durch die speziellen Proportionen und die leuchtende Farbigkeit ist die Arbeit von weitem erkennbar und verleiht dem Vorplatz einen unverwechselbaren Charakter. Den Wettbewerb für die Berliner Otto-Hahn-Schule gewann "Inges Idee" 2005 ebenfalls mit einer "gestrechten", 8 m hohen weiblichen Figur in blauem Trainingsanzug. Der Urtyp des "Langen Mann" steht bereits seit einigen Jahren unbeschadet auf dem Pausenhof der 43. Grundschule in Berlin-Spandau. Die Wände des runden Foyers dieser Grundschule in Berlin-Spandau wurde von "Inges Idee" komplett mit verspiegeltem Acrylglas verkleidet. Durch die Krümmung des Raumes entstehen Zerrspiegelungen die sich beim Durchschreiten äußerst dynamisch verändern. Die vorhandene Architektur wurde hier als Träger für eine optische Installation genutzt. Auf diese Weise wird der gebaute Raum mit dem Betrachter "kurzgeschlossen", da dieser sich wie ein Kern in dem ihn umgebenen Raum spiegelt. Durch das Durchschreiten und Herantreten verändert sich das Verhältnis von Mensch, Raum und Oberfläche.
Für das großflächige Dach der Universität Hamamatsu in Japan entwickelte "Inges Idee" die Arbeit "Wooden Top", die im Jahr 2000 ausgeführt wurde: Entlang eines Weges auf dem wellenförmig gekrümmten Dachgarten der Universität platzierten die Künstler 7 Gartenbänke. Die Gartenbänke besitzen das klassische Design englischer Gartenmöbel und sind von unterschiedlicher Größe. Während die kleinste Bank nur 30 cm hoch ist, erreicht die größte eine Höhe von über zwei Metern. Verbindliche Maßstäbe fehlen, nur eine der Bänke weist die "normale" Größe auf. Die Bänke verbinden verschiedene Aspekte der Architektur und des speziellen Ortes. Sie definieren den Dachgarten als natürliche Parklandschaft und laden zum Verweilen und Betrachten des atemberaubenden Ausblicks über die Skyline der Stadt ein. Als zusammenhängende Skulptur nehmen die Bänke die gesamte Länge des Daches auf und unterstützen durch die Größenabwicklung die Wellenbewegung des Daches.
Für die brandenburgische Stadt Fürstenwalde entstand 2002 ein "Doppelgängerplatz": Der Platz zwischen Rathaus und "Galgenberg" in Fürstenwalde ist durch die Heterogenität seines Umfelds bestimmt. In dieser Situation setzte der Entwurf "Doppelgänger" auf ein Ordnungsprinzip, welches sich anhand einer gedachten Achse über dem Platz etabliert. Entlang dieser Achse wurden eine beträchtliche Anzahl von Stadtmöbel, wie Laternen, Poller, Papierkörbe, Fahrradständer und Sitzbänke symmetrisch gespiegelt aufgestellt. Das Zentrum des Platzes wird durch eine Skulptur besetzt, die die auftretende Verdoppelung wie eine Keimzelle verkörpert. Diese zentrale Skulptur ist gleichzeitig als Bank oder Tisch zu benutzen und stellt das Bindeglied zwischen Möblierung und skulpturaler Inszenierung dar.
Alle auf einer Seite der Achse platzierten Objekte finden sich achsensymmetrisch gespiegelt auf der gegenüberliegenden Seite wieder. Diese Verdoppelung und die mitunter funktionslos erscheinende Positionierung der Objekte evozieren eine fast surrealistische Choreographie. Der achsensymmetrische Aufbau strukturiert die Heterogenität der Umgebung und macht den Platz zum Zentrum einer neuen Ordnung. Der Funktionalität der aufgestellten Objekte steht ihre zwanghafte und teilweise sinnlose Positionierung gegenüber. Auf dieser mit Doppelgängern bevölkerten Bühne gerät jeder Besucher zum unverwechselbaren Hauptdarsteller.