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Buchbesprechung "Krititisches Wörterbuch"

von Peter Funken



Kritisches Wörterbuch
Beiträge von Georges Bataille, Carl Einstein, Marcel Griaule, Michel Leiris u.a.
Herausgegeben und übersetzt von Rainer Maria Kiesow und Henning Schmidgen mit einem Nachwort der Herausgeber
Merve Verlag, Berlin 2005, 146 S., ca. 50 Abbildungen, EUR 14,80
ISBN 3-88396-207-4

«Das Gewimmel der Reptilien im Untergrund der Sümpfe und Kerker, ihre merkwürdigen Verschlingungen, ihre Kämpfe, in denen sie beißen, würgen und Gift verspritzen, werden immer das genaue Abbild der menschlichen Existenz sein, die von oben nach unten mit Tod und Liebe durchzogen ist» - so endet der Eintrag von Michel Leiris zum Thema «Reptilien» im Kritischen Wörterbuch, einem festen Bestandteil der interdisziplinären und intermedialen Zeitschrift «Documents», die 1929 bis 1931 in Paris erschien. Das Kritische Wörterbuch wurde fortlaufend auf den hinteren Seiten dieses «Magazine illustré» mit dem Untertitel «Doctrines, Archéologie, Beaux-Arts, Ethnographie» veröffentlicht. Im zweiten und letzten Jahrgang ersetzten die Herausgeber von «Documents» den Begriff «Doctrines» durch «Variétés» und tatsächlich sind die Einträge im Kritischen Wörterbuch extrem verschiedenartig, denn es gab in ihm mehr als 40 Einträge zu so unterschiedlichen Themen wie etwa Engel, Spucke, Unglück, Schlachthof, Nachtigal, Buster Keaton, Strafarbeit oder Sonne.

Als Autoren der Lemmata zeichnen Dichter, Ethnologen und Kunstwissenschaftler der Epoche, wie die «Documents»-Herausgeber Georges Bataille und Carl Einstein, Marcel Griaule, Robert Desnos oder Michel Leiris, der bei «Documents» zeitweise als Redaktionssekretär beteiligt war. Die in «Documents» versammelten Lexikonartikel sind nun von Rainer M. Kiesow und Henning Schmidgen übersetzt, herausgegeben und kommentiert worden, wobei den beiden eine außerordentliche Arbeit gelungen ist, denn das «Kritische Wörterbuch» ist nicht nur eine phantastische und unterhaltsame Lektüre, sondern legt auch eine Art von philologischem Link zu Perzeption und Methode einer Gruppe von Intellektuellen und Wissenschaftlern der Vorkriegszeit, die die Welt, in der sie lebten, als grausam, dumm und schön wahrnahmen - und so forderte Bataille für das «Kritische Wörterbuch»: «man muß anfangen, die Wörter durch den Tod zu betrachten». Den Themen gegenüber herrschte eine «Offenheit, Direktheit und Lebendigkeit, aber auch Gegenständlichkeit - mit diesen Schlagworten lässt sich das anfängliche Programm des Kritischen Wörterbuchs umschreiben», bemerken die Herausgeber in ihrem präzise erarbeiteten Nachwort. Mit diesem haben sie eine Lektüre verfasst, die niemand, der an der Geschichte der Kritik und des Lexikons interessiert ist, übergehen sollte. Die Idee zu dem Wörterbuch - einem Buch im Buch - geht auf den deutsche Schriftsteller, Kunst- und Literaturtheoretiker Carl Einstein zurück, der 1928 Berlin verlassen hatte, um nach Frankreich zu gehen. In Berlin hatte er für das illustrierte Magazin Der Querschnitt gearbeitet - eine von dem Kunsthändler Alfred Flechtheim initiierte und von Hermann v. Wedderkop in den Jahren 1921-1924 edierte Zeitschrift für Kunst, Kultur und Lifestyle in der Weimarer Zeit, in der so gut wie alle namhaften Autoren und Künstler der Epoche vertreten waren. Im «Querschnitt» - Untertitel: «Das Magazin der aktuellen Ewigkeitswerte» - schrieben Benn, Thomas Mann und Sternheim, erschienen Texte von Pound oder Gide in englisch und französisch, und es wurde über Klee, Matisse und Picasso berichtet. Bei dieser, zu den vier Jahreszeiten erscheinenden Zeitschrift war die assoziative und analogisierende Bildregie der besondere Clou: im Montagekonzept des «Querschnitt» prallten Fotos zu völlig unterschiedlichen Themen aufeinander, so dass das gesellschaftliche Auseinanderdriften und die Leichtlebigkeit der Zeit erkennbar wird. Carl Einstein scheint nicht nur das «Kritische Wörterbuch» angeregt zu haben, sondern auch die Methode des Foto-Parallelismus, die dem im «Querschnitt» in nichts nachsteht, aber gegenüber der Sachlichkeit im «Querschnitt» ein dunkleres und surreales Timbre besitzt. Auf den Wirkungszusammenhang mit dem «Querschnitt» gehen die Herausgeber nicht ein.

Wie ein Programm für das Wörterbuch liest sich George Batailles Lemma «Formlos», in dem er forderte, «nicht mehr den Sinn, sondern die Verrichtungen der Wörter zu verzeichnen». «Formlos» ist nicht nur ein Adjektiv, sondern ein Ausdruck der Deklassierung, schreibt Bataille, «was er bezeichnet, hat keine Rechte in irgendeinem Sinne und lässt sich überall wie eine Spinne oder ein Wurm zertreten. Damit die akademischen Menschen zufrieden sind, ist es in der Tat erforderlich, dass das ganze Universum Form annimmt.» Das zu bekämpfende Ziel der akademischen Philosophie sieht Bataille darin, «alles in einen Gehrock, in einen mathematischen Reitmantel zu stecken» und er folgert: «Dagegen läuft die Annahme, daß dem Universum nichts ähnelt und es formlos ist, auf die Aussage hinaus, daß das Universum so etwas ist wie eine Spinne oder wie Spucke sei.» Bataille plädoyierte für ein offenes Sehen und wildes Denken. Das Wörterbuch war dem entsprechend ein Sabotageakt gegen den Akademismus. Der Begriff «Mensch» tauchte im «Kritischen Wörterbuch» gleich zweimal auf, in beiden Fällen ex negativo: einmal wird der chemische Wert des Menschen mit 25 Francs detailliert ermittelt, der zweite Text handelt vom humanen Blutdurst, die Tiere millionenfach in Schlachthäusern zu massakrieren. Auf die Nachfolgenden verfehlte das Lexikon seine Wirkung keineswegs. Kiesow und Schmidgen erkennen seinen anregenden Einfluss im Sinne eines Protostrukturalismus auf das Denken Lacans und Foucaults bis hin zu Deleuze und Agamben. Mit der Herausgabe der Enzyklopädia Da Costa, einer fast vergessenen Blattsammlung, die 1947 von Isabelle Waldberg, Robert Lebel und Marcel Duchamp publiziert wurde, will der Merve Verlag demnächst ein weiteres Lexikon-Projekt vorstellen. Mit dem Kritischen Wörterbuch ist dem Verlag ein Volltreffer gelungen, auf seine Fortsetzung darf man gespannt sein.


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