Eine Reise zu Kubin.

von Peter Funken



Diese Reise war so lange geplant, dass sie mir als sie dann tatsächlich stattfand - direkt schon wieder unwirklich, fast unglaubwürdig vorkam. 40 Jahre waren vergangen, als mein Wunsch Wirklichkeit wurde, Alfred Kubins Wirkungsstätte, das Schlösschen Zwickledt, zu besuchen. Dort hatte Kubin den größten Teil seines Lebens verbracht - von 1906 bis zu seinem Tod 1959.
Freund Hauser, ein bayrischer Künstler in Berlin, ging es ganz ähnlich, auch er träumte seit langem von Zwickledt - hatte er doch schon bei seinem Abitur 1979 ein Referat über den „Magier der Zeichenfeder" geschrieben. Und so starteten wir an einem schwülen Freitag im Juli 2009 vom Berliner Hauptbahnhof eine Eisenbahnreise, die uns zuerst nach Passau führte, das wir nach 7 Stunden Fahrt am Abend im Regen erreichten.
Die alte Stadt, wo Donau, Inn und Ilz zu einem mächtigen Strom werden, diese Stadt mit ihren prächtigen Barockbauten, schönen Plätzen, winkligen Gassen, steilen Stiegen, den massiven Überbauungen und Flusspromenaden erinnerte uns im Zwielicht der Dämmerung direkt an kubin'sche Unheimlichkeiten, etwa an die Beschreibungen und Zeichnungen der Stadt Perle, die Kubin in seinem Roman „Die andere Seite" so trefflich mysteriös dargestellt hat. Dieses Buch ist vor 100 Jahren bei Georg Müller in München erschienen, immer noch ist es lesenswert und wirkt aktuell, nicht zuletzt wegen der modernen Sprache.

In Passau, so stellten wir fest, wusste man jedoch so gut wie nichts von Kubin, seinen diesjährigen Jubiläen, wie auch von Zwickledt. An seinem 50sten Todestag erinnerte bis auf eine Reihe von Büchern und Drucken in einem Antiquariat rein gar nichts an ihn. Auch im Hotel konnte man uns nicht sagen, wie man nach Zwickledt zum Kubinhaus kommt. Dafür überraschte die Stadt mit einer „Kunstnacht", mit überfüllten Galerien und mäßiger Kunst, wobei eine Rupprecht-Geiger-Ausstellung in der Galerie Stauber die Ausnahme machte. Geiger, nunmehr 101 Jahre alt, sah das Licht der Welt, als Kubin am Tisch seiner Zwickledter Bauerstube „Die andere Seite" in einer künstlerischen Krise, kurz nach dem Tod seiner geliebten Verlobten, verfasste. Welten liegen zwischen den beiden Künstlern, Qualität aber ist ihr gemeinsames Zeichen.

Nach einigen Krügen Bier und weiteren Weinzugaben hatten wir uns eine Passauer Kubin-Welt zusammengereimt, zeigten uns gegenseitig da einen dunklen Winkel und dort eine altehrwürdige Toreinfahrt, die uns wie Vorlagen für Kubins Realfantastik erschienen.
Am nächsten Morgen stimmten wir uns auf das eigentliche Reiseziel, die Wallfahrt zum Zwickledter Kubinhaus, mit einem mittäglichen Orgelkonzert im vollbesetzten Hohen Dom ein. Auf dieser größten Orgel der Welt, sie besitzt Nebenorgeln sowie ein Schallloch in der Decke, wurde in einer halben Stunde und für 4 Euro vom Organisten Ludwig Ruckdeschel zügig ein Potpourri gespielt, das mit Mozart begann und in der Moderne bei Jean Langlais endete.
Dergestalt beschwingt und musisch gestärkt, der Vorabend steckte mir noch in Knochen, bestiegen wir den City-Express von Passau nach Linz. Die Fahrt dauerte kaum 10 Minuten, sie führt entlang am Inn, wo es sich auch gut radeln lässt, ins österreichische Wernstein - hoch auf der anderen Seite das imposante Schloss Neuburg. Plötzlich standen wir mutterseelenallein auf einer Art Wild-West-Bahnhof, um den entscheidenden Gang unserer Wallfahrt zu tun; die letzte Wegstrecke bergan führte in schwüler Hitze durch den Wald zum Sehnsuchtsort unserer vergangenen Jugend. Diese Strecke, so sannen wir, waren auch Paul Klee, Max Beckmann und Max Unold, Hermann Hesse, Fritz Gurlitt, Reinhold Piper, Friedlaender- Mynona, Hans Carossa und Ernst Jünger gegangen ... und nun wir verkaterten Gesellen. Genau in diesem Moment müssen wir die schlecht ausgeschilderte Abkürzung des Alfred-Kubin-Wanderwegs bei Keim verpasst haben, den wir dann später beim Rückweg benutzten. Auch lenkte uns ein großer, grüner Heuschreck ab, an dem Ernst Jünger gewiss Gefallen gefunden hätte. Das letzte Stück ging es entlang der Landstraße und dann vorbei an der leider aufgegebenen Gasthausbrauerei Dinkelbräu. Hier hatten wir uns eine muntere Vesper à la Kubin versprochen, natürlich auch hausgemachtes Frischbier. Damit war es nichts, aber nun war das Kubinhaus, diese Gedenkstätte des Oberösterreichischen Landesmuseums Linz, in greifbarer Nähe und schon sahen wir das Türmchen des Anwesens, dann den alten Garten und den schwarzen Teich, dem eine moderne, surreal anmutende Unterwasser-Videoinstallation leider die melancholisch-morbide Atmosphäre raubte.

Wir waren avisiert und wurden im Haus von der bestens informierten Frau Binder begrüßt, die unweit entfernt wohnt und in Zwickledt die Besuchergruppen betreut. Sie kennt die sehr alte Haushälterin Kubins, die im Dorf lebt, persönlich und besucht sie zuweilen. Frau Binder machte uns eine Führung durchs Schlösschen, und so sahen wir die Erstaunlichkeiten in aller Ruhe aus nächster Nähe - zuerst die altehrwürdige, grau gestrichene, düstere Küche, danach die Bauernstube, wo man aß, wo früher die Gäste empfangen wurden. Ins Auge fiel eine alte Hausglocke, an der eine fette Spinne lebte, überall verschossene Stoffe, ehrwürdiges Mobiliar und blinde Spiegel - aber die hatten schon zu Kubins Zeiten nicht anders ausgeschaut, denn der Zeichner liebte das Vergangene und war der modernen Technik abhold. Andererseits, eine der letzten Aufnahmen Kubins von 1958 zeigt im Hintergrund ein großes Radio - dieses Gerät aber konnte man uns heute nicht mehr vorweisen. Dafür aber im oberen Geschoß des nun 500 Jahre alten Gemäuers die drei miteinander verbundenen Räume des Arbeitszimmers, der Bibliothek und dazwischen Hedwig Kubins Schreibzimmer mit der Schreibmaschine - alles gut erhalten, obwohl leicht angestaubt, als wäre Kubin nur für kurze Zeit entschwunden.
Zwischen die vielen Bücher der großen Bibliothek hatte der Künstler immer wieder Geldscheine gesteckt und dann vergessen - man fand dort nach seinem Tod ein Sümmchen von 100 000 Schilling, heute wären das an die 50 000 Euro.

Frau Binder zeigte uns das große Schlafzimmer, in dem die schwer kranke und über lange Zeit Morphium abhängige Hedwig Kubin gelegen haben muss. Kubins braun-weiß karierte Hausjacke hing dort am Bügel - überhaupt die Kleider: als wolle er gleich spazieren gehen, standen die derben Schuhe am Boden, der schwarze Umhang, Hut und Wanderstab hingen an Haken. Ehrfürchtig befühlten wir den alten Stoff, ohne dass Frau Binder uns getadelt hätte. Sie zeigte uns auch das Gästezimmer - hier hatten die oben genannten Künstler und Literaten genächtigt und hier war Kubin nach langer Krankheit am 20. August 1959 gestorben, im 83. Lebensjahr. Im Kleiderschrank, den Frau Binder öffnete, hingen ordentlich die schwarzen Kranzschleifen der Beerdigung - merkwürdig, dass keine auf Ernst Jünger hinwies, hatte der doch den Künstler besonders verehrt und viel mit ihm korrespondiert. Dass Ernst Jünger Alfred Kubin immer nur in seinem fragwürdig antibürgerlichen Sinne und wie immer gänzlich humorlos interpretiert hat, kann man in Claudia Gerhards Buch „Apokalypse und Moderne" (1999) nachlesen.

Mittlerweile war ein ganzer Bus mit Rentnern aus Deggendorf angekommen und Frau Binder eilte weiter. Beim Abschied legte sie uns nahe, den Rückmarsch über den Kubin-Wanderweg mit den Kubin-Stationen zu machen, also direkt an ihrem Haus vorbei, wo ihr lieber Hund aufpasse. Bevor wir diesen Weg antraten, sahen wir uns im unteren Teil des Hauses die kleine Ausstellung an - besonders die Filme waren sehenswert, etwa jener, der zeigt, wie der österreichische Unterrichtsminister Kubin 1957 in der Zwickledter Bauernstube das „Verdienstkreuz für Wissenschaft und Kunst" umhängt , der aber keinerlei Interesse an der Auszeichnung zeigt. Er sei ein Mann „österreichischer Höflichkeit alter Tradition" gewesen, wird im Film vermeldet, nicht aber, dass Kubin auch ein charmanter Schürzenjäger gewesen ist, wie die heutige Forschung weiß.

Nun ging es an den Heimweg auf dem Kubin-Wanderpfad, den wir bergan verpasst hatten. Hier war Alfred Kubin gewiss oft gewesen, denn er liebte tägliche Gänge in der nahen Umgebung, obwohl man ihn in Zwickledt, Wernstein und Schärding allzu lange als merkwürdigen Außenseiter betrachtet hatte.
Durch heiße Luft und Felder ging es abwärts. Noch lange sah man rückblickend das Türmchen vom Schloss. Dann kamen neue Häuser, dort war das Bindersche mit dem lieben Hund und dem Plakat, dass die Tochter das Lehrerexamen bestanden habe, und dann wurde es zunehmend dunkel im Wald und übermannshohe Zäune sperrten ihn plötzlich ab, bis man an eine völlig versumpfte Wiese gelangte, auf der ein mächtiges, schwarz-hölzernes Haus stand - anstatt Fenster Schießscharten, dafür an der Nordseite zwei riesige geschnitzte Barockbalkons. Unheimlich wurde es mir, nicht wegen der nassen Füße, aber jeden Moment sah ich zwei scharfe Rottweiler aufkreuzen oder einen verrückten Müller mit Pumpgun. Wer wohnt nur so, von Zäunen eingesperrt, bedroht von Milliarden Mücken und einer Malaria des Typs austriensis?

Wir gingen schneller, seit mehr als fünf Stunden hatten wir bei der Hitze nichts getrunken - wie gesagt, das Dinkelbräu, wo Kubin gerne gesessen hatte, war nicht mehr in Betrieb. Frau Binder hatte uns in Wernstein einen Gasthof empfohlen, doch vor dem stand nun der Deggendorfer Rentner-Bus und verhieß langes Warten - aber Felix Austria bot uns Besseres an, denn wir stießen kurz vor dem Bahnhof auf den Kaufladen und Imbiss „Semmel Schupfer Sepp", wo Frau Schupfer uns köstlichen Leberkäs und Salzspitzen auftischte, feine Konditorwaren bereit hielt, Almdudler und Spezi servierte. Da ging es uns wieder prächtig und wir gratulierten uns zu unserer Wallfahrt nach Zwickledt - „wir wollen wiederkommen" gelobten wir, „in diesem Leben!" So gingen wir glücklich und zufrieden an Gleis Nummer 3, wo schon bald der City-Express am Horizont auftauchte - um uns fort zu bringen, fort von Zwickledt, fort vom schwarzen Teich, fort vom magischen Schlösschen, fort von Kubins Seelenort - zurück nach Passau, zurück nach Berlin, in unsere reale Fantastik von Krise, obskurer Rationalität, nervendem Lärm und langweiliger Geschwindigkeit.

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