Über Sonja Vordermaiers Skulptur "Schatten 2", als Kunstwerk des Hybriden und Dystopischen.

von Peter Funken


 

Der plastische Gegenstand, den Sonja Vordermaier für ihre Ausstellung in der Kunststiftung Erich Hauser in Rottweil hergestellt hat, ist immens groß und befindet sich frei schwebend im Raum. Der gestreckte, amorphe Körper besitzt eine Länge von 18 Metern und wurde von der Künstlerin aus dem Schaumstoff Basotect herausgeschnitten. Dieses Plastikmaterial ist von dichter Konsistenz und wird bei der Fabrikation grau eingefärbt. Die Form der von Sonja Vordermaier geschaffenen Skulptur ist unregelmäßig ausladend, sie wirkt kantig und an vielen Stellen wie zersplittert. Beim ersten Hinsehen erscheint diese Skulptur wie ein autonomes und geradezu befremdliches Gebilde. Vielleicht - so könnte man vermuten - besteht es aus Stein und stammt aus der Natur, vielleicht aber sogar aus dem Weltall. Dann wäre der horizontal gelagerte Felsen ein Meteorit oder der Teil eines solchen. Doch widerspricht dem die gleichmäßige Farbgebung, wie auch der unmittelbare Eindruck von Leichtigkeit. Und so könnte man ebenfalls denken, es handle sich um einen seltsamen technischen Apparat - etwa um das Raumschiff einer außerirdischen Zivilisation, das hier gelandet ist. Doch auch diese Assoziation bestätigt sich bei genauerem Hinsehen nicht.

Sonja Vordermaiers Arbeit, die den Titel "Schatten 2" trägt, mutet von daher an wie ein hybrider Mix von Natur-, Technik- und Kunstform. Die monumentale, graue Skulptur scheint zwar Natürliches zu imitieren, doch gehört diese Arbeit eindeutig in die Welt des Artifiziellen. "Schatten 2" wurde von der Künstlerin konkret für den Ausstellungsort in Rottweil konzipiert. Demnach ist sie in ihrer Dimension und Proportion eine maßgerechte Installation für die große, hohe Industriehalle, in der Erich Hauser einen Teil seines Lebenswerkes schuf.

Sonja Vordermaier hat bereits mehrere Arbeiten hergestellt, bei denen industriell gefertigtes Material im Sinne einer Vorstellung des Natürlichen und Technischen aktiv wirksam wurde. So etwa bei ihrer Arbeit "Accumulator 3" (2004), bei der CD-Rohlinge und Bauschaum eine Verbindung eingehen und wie gewachsene Muschelbänke in Raumecken nisten. Auch bei der Außenarbeit "Nordlüster" (2006) verband die Künstlerin ästhetisch und technisch Gestaltetes - diesmal Bleikristalle sowie eine Straßenlampe - mit biologisch Lebendigem, denn sie setzte jagdbereite Spinnen in den "Nordlüster", damit sie ihn mit ihren Netzen umgarnten. Bei der frei im Raum hängenden Skulptur "Teslasmog" (2006) initiierte die Künstlerin hingegen eine natürlich-physikalische Reaktion, denn im Gewirr der zusammenmontierten Antennenstangen aus Metall haften zahlreiche, in die bildhauerische Arbeit eingebrachte Metallspäne. Diese Späne werden von mehreren Hochleistungsmagneten, die am Antennengerüst befestigt sind, angezogen und lagern sich in deren Umgebung ab. Last not least hat die Künstlerin mit "Schatten 1" (2007) einen Vorläufer für die in Rottweil realisierte Arbeit entwickelt, bei dem zwei Basotect-Skulpturen im Ausstellungsraum schweben.

Im Werk Sonja Vordermaiers entstehen immer wieder dreidimensionale Wahrnehmungsbilder, bei denen Naturvorstellungen und Naturprozesse in Verbindung mit Technischem eine Rolle spielen. Solche Vorstellungen werden in und mit modernem Material vorgestellt. Es sind vor allem bildhafte Annährerungen, die die Künstlerin dabei entwickelt, und so wird auch bei "Schatten 2" eine visuelle Nähe zur Naturform formuliert. Doch geht es ihr keinesfalls um eine illusionistische Form der Skulptur, wie man sie zuweilen im Theater verwendet, denn die Künstlerin verhehlt nicht, dass es sich ja bei "Schatten 2" um eine plastische Form aus eingefärbtem Kunststoff handelt.

Dennoch wird bei der Rottweiler Arbeit der Vorgang des Sehens als ein trügerischer Erkenntnisvorgang entlarvt, denn unserem Sehsinn, dem wir gerne über alle Maße trauen, wird zumindest vordergründig suggeriert, er erfasse eine Form aus natürlichem und nicht aus künstlichem Material. Erst auf den zweiten Blick, beim genauen Hinschauen, werden die Betrachter gewahr, dass sie dem ersten Anschein Glauben schenkten, dass sie sich über das Material täuschen ließen, dass sie sich selbst täuschten.

Sonja Vordermaier nimmt mit ihrer Arbeit jedoch nicht nur nachahmend auf Natürliches und Technisches Bezug, denn "Schatten 2" imitiert - oder besser gesagt - zitiert auf einem anderen Niveau Vorstellungsbilder der Kunst und ihrer Geschichte. Fast unwillkürlich stellen sich Gedanken an kunsthistorisch Verwandtes ein - etwa an ein zentrales Werk der Romantik - Caspar David Friedrichs (1774 - 1840) bedeutendes Gemälde "Die gescheiterte Hoffnung", das in den Jahren 1823/24 entstand. Eigentlich trägt dieses Bild, das sich in der Hamburger Kunsthalle befindet, den Titel "Das Eismeer" (1). Es zeigt ein gestrandetes, von mächtigen Eisschollen umfangenes Segelschiff, das von diesen zermalmt wurde. Bei Friedrichs realistischer Darstellung der Schiffskatastrophe entwickelt sich ein tieferer Sinn, wenn man bedenkt, dass der zeitgenössische Versuch, sich gegen die natürlichen (2) und gesellschaftlichen Gewalten aufzubäumen, scheitern musste angesichts der erstarrten politischen Verhältnissen der Zeit. Beim Unterfangen liberalere gesellschaftliche Bedingungen zu etablieren, scheiterte man und erlitt ähnlich Schiffsbruch, wie das winzige Schiff, das die Eismassen in Friedrichs Gemälde zerdrücken. Auf dieses zentrale Werk der Romantik scheint Sonja Vordermaier bei "Schatten 2" anzuspielen, doch kann man in ihrer Skulptur ebenfalls Hinweise auf die Üppigkeit des Barock erkennen, wie gleichfalls auf Gestaltungsmomente des Expressionismus - dies etwa in Hinblick auf die zersplitterte Oberflächenstruktur der Plastik. Wir haben es bei einer kunsthistorischen Verortung dieser Skulptur nicht mit einer eindeutigen und ausschließlichen Kontextualisierung zu tun, sondern wiederum mit einer hybriden Situation, bei der verschiedene Anspielungen gleichzeitig zu erkennen sind.

Sonja Vordermaier wirft mit "Schatten 2" weitere Fragen auf, die ein wichtiges Thema von Philosophie und Erkenntnistheorie berühren. Gemeint ist die nach wie vor zu diskutierende philosophische Frage nach der Beziehung von Natur zu Kultur und Kunst. Nicht zuletzt als Resultat der Aufklärung und eines neuen Naturbegriffs, werden bis heute "Kultur" und auch "Kunst" als Gegenbegriffe zu "Natur" verstanden - als künstlich anstelle von natürlich. Man verwendet das Präfix "Kunst" als Bezeichnung für "nicht natürlich", so etwa in Wörtern wie Kunstpelz, Kunststoff oder Kunstauge und erkennt mithin in der Kultur die eigentliche Natur des Menschen. Es stellt sich aber die Frage, ob sich die Begriffe Kultur, Kunst sowie der Naturbegriff tatsächlich diametral und ausschließend gegenüber stehen müssen, so wie es die Umgangssprache und Alltagskultur nahe legen.

Im Werk Sonja Vordermaiers wird dies markant augenfällig, denn sie erschafft in modernen Werkstoffen Verbindungen und Vermischungen im Grenzbereich von Kunst, Natur und Technik, so dass die ineinander fließenden, plastischen Vorstellungen etwas Neues und Hybrides entstehen lassen. Dies wiederum legt den Gedanken nah, dass über die den künstlichen Stoffen innewohnende, natürliche Materie eine Brücke von der Kultur zur Natur und zu gemeinsamen Ursprüngen und sozusagen zu einem Weltganzen, wie es von den Romantikern erkannt wurde, zu schlagen sei. Solche Vorstellungsbilder entwickeln sich bei Sonja Vordermaier nicht aufgrund eines erkenntnistheoretischen oder philosophischen Diskurses, sondern in der Sprache der Kunst, das heißt, in der konkreten Anschaulichkeit und Sinnlichkeit des plastischen Arbeitens und auch in der Debatte um die von ihr geschaffenen Werke. Letzteres setzt eine individuelle Wahrnehmung und Position voraus.

In diesem Zusammenhang lassen sich dann ebenfalls Bezüge und Verbindungen zu C. D. Friedrich und der Romantik als dem Ursprung der Moderne herstellen, denn in dieser Epoche begann die Individualisierung und eine umfassende Ästhetisierung der Lebenswelt. Diese, für die Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaft konstituiernden Prozesse, sind bis heute weit fortgeschritten und dabei unübersehbar an Grenzen gestoßen und über diese hinausgegangen. Mittlerweile kann man Entwicklungen beobachten, die die Facon des Bürgerlichen im Sinne eines radikalen Individuationsgedankens deutlich bedrohen, aus den Angeln heben und eliminieren. Von daher ließe sich Sonja Vordermaiers Skulptur als Vorschein einer negativen Utopie begreifen, als dystopischer Entwurf, und somit als Ausdruck von etwas Gefährlichem und Unfassbarem, das sich Eintritt verschafft hat und das bei "Schatten 2" der Form und Bedeutung nach als ein Bild der Okkupation und Bedrohung zu verstehen ist.

Eine solche Interpretation ist womöglich in der Sichtbarkeit der Arbeit zu erblicken und zu erkennen. Jedoch handelt es sich bei "Schatten 2" gleichfalls um ein offenes Kunstwerk, um eine autonome Skulptur, die - wie oben beschrieben - einen mehrfach hybriden Charakter besitzt. In dieser hybriden Struktur entwickelt sich die Rätselhaftigkeit der Arbeit, die durch den Titel "Schatten 2" sogar noch forciert wird.

Indem Sonja Vordermaier Material aus den Bereichen Technik und Industrie für ihre Arbeit verwendet, skulptural formt und in eine vorhandene Raumstruktur integriert, können sich durchaus andere Vorstellungen und Interpretationen einstellen, die aber immer mit der Besichtigung eines Grenzgebiets oder Neulands einhergehen werden, denn Sonja Vordermaiers Skulptur ist ein Kunstwerk, das allein wegen seiner Dimensionen die Realität des Unfassbaren und auch deshalb kaum noch zu Benennenden thematisiert.

1)
C. D. Friedrichs Bild "Die gescheiterte Hoffnung", das ein von Eis zerdrücktes Wrack mit dem Schiffsnamen "Hoffnung" zeigt, ist verschollen. Siehe dazu: Ausstellungskatalog "Caspar David Friedrich", Hamburger Kunsthalle 1974, S. 258.

2)
So etwa redet bereits Voltaire von der Tyrannis und Willkür der Natur. Der Philosoph protestiert öffentlich gegen die Zerstörung Lissabons durch das Erdbeben des Jahres 1755, als einem "Verbrechen der Natur", die gegen die "Güte Gottes" spricht.


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