Berlin, Akademie der Künste, Pariser Platz
2.10. - 14.11. 2010
von Peter Funken
Argentinien - eines der größten Länder der Welt - rund 4000 Kilometer sind es von der brasilianischen Grenze und den Tropen im Norden bis nach Feuerland im Süden, die Antarktis zum Greifen nahe. Argentinien, das ist die Geschichte einer Mischkultur, von 200 Jahren Einwanderung und Landnahme, Wohlstand im frühen 20. Jahrhundert, reaktionärem Peronismus, gesellschaftlichen Auseinandersetzungen und brutalen Diktaturen - Jorge L. Borges sagt dazu: "uns überwuchert, grässlich, die Geschichte": allein während des Staatsterrors, der von 1976 bis 1983 währte, verschwanden 30 000 Menschen und 100 000 wurde gefoltert. Nach dem Falklandkrieg stürzten große Bürgerbewegungen 1983 die Militärdiktatur. Das Land kehrte zur Demokratie zurück, doch damit nahmen die wirtschaftlichen Probleme kein Ende. Ihren Höhepunkt hatten sie 2002 mit der Argentinien-Krise, als eine Geldentwertung die Kaufkraft des Pesos auf ein Zehntel minimierte und den Mittelstand um seinen Besitz brachte. In den letzten Jahren erholte sich das Land: Die Regierung Kirchner begann die Verbrechen der Militärjunta aufzuklären, es gibt einen Wirtschaftsaufschwung. Argentinien ist zugleich Schwellen- und Industrieland, das seine zahlreichen Rohstoffe weiterhin exportieren muss, weil die Bereitschaft für internationale Investitionen nach wie vor gering ist. Zwischen der reichen Oberschicht und der vorwiegend armen Bevölkerung existiert eine große Kluft, die man im Alltag der Metropole Buenos Aires deutlich erleben kann. Buenos Aires ist das kulturelle Zentrum Argentiniens. Fast ein Drittel der 40 Millionen Bürger des Landes leben im Ballungsraum Buenos Aires, das eine überaus lebendige Kunstszene besitzt. Literatur, Film und Theater aus Argentinien sind mittlerweile international anerkannt. Von der bildenden Kunst weiß man hingegen eher wenig.
Die von Diana B. Wechsler in den Räumen der Akademie kuratierte Ausstellung zeigt erstmals in Deutschland eine Übersicht aktueller und historischer Kunst aus Argentinien. Mit 100 Werken von 80 KünstlerInnen entstand eine informative Show, die belegt, wie nahe und doch fern uns dieses Land ist. Ausgehend von der Kunst der Gegenwart führt die Ausstellung zurück in die 1920er Jahre und in eine Abteilung, die vor klassisch rotem Hintergrund dicht gehängt Werke zeigt, die deutlich von der Avantgarde Europas beeinflusst wurden. Vor allem Paris war für argentinische Künstler Magnet und Vorbild, sodass vom kubistischen, konstruktiven und surrealen Werk bis hin zum Tachismus und der Art Brut alle möglichen Stilrichtungen vertreten sind, auch Film und Fotografie der späten 1930 Jahre, die die Modernität der Metropole Buenos Aires vorstellen. Dahin emigrierten viele europäische Juden und andere Verfolgte der Nazis, um vielleicht 10 Jahre später auf der Straße ihren mittlerweile abgetauchten Verfolgern wieder zu begegnen. Es erstaunt, in dieser historischen Abteilung auch eine frühe Malerei des derzeit international angesagten Künstlers Guillermo Kuitca (*1961) zu entdecken. Doch begeben wir uns noch einmal zurück an den Anfang der Ausstellung: "Realidad y Utopia" beginnt mit einer bemerkenswerten Skulptur des seit langem in Berlin lebenden Miguel Rothschild, der er den Titel "Melencolia A.D." gab. Es handelt sich um einen, mit Bezug auf Dürers Melancholie-Kupferstich erbauten Polyeder - ein meterhohes transparentes Vieleck - das aus tausenden bunten Trinkhalmen zusammengefügt ist. Rothschild überließ seinen Helfern beim Montieren die Wahl der Farben. So entstand ein von Zufällen bestimmtes Objekt, das gleichfalls eine exakt kalkulierte Form besitzt. Man kann es als ironischen Kommentar zur Tragik Argentiniens begreifen oder zur Rolle des Künstlers - auf jeden Fall möchte Rothschild das Kürzel A.D. als Verweis auf Dürer sehen, zugleich aber als lautmalerisches "Ade", das er der Melancholie zuruft; durchaus verständlich, wenn man aus einem Land stammt, in dem melancholischer Tango, Sentiment und Evita Peron so schöne Stereotype bilden.
Im folgenden Ausstellungsbereich findet der Versuch statt, Kunst zu zeigen, die mit soziologischen und literarischen Strukturen operiert und dafür die geometrische Form des Würfels verwendet: In einem großen, offenen Würfelraum schwebt ein schwarzer, mit Gas gefüllter Ballon in Quaderform. Auf dessen Oberfläche hat die Künstlerin Graciela Sacco Großstädte und Zahlen vermerkt. Die Zahlen benennen den Kaufpreis für einen Quadratmeter Boden angeben - in Monte Carlo kostet er 47.500 $, in La Paz hingegen nur 180 $. "Die Arbeit problematisiert in ironischer Synthese die heutigen Grenzen der Ausübung des von Graciela Sacco imaginierten Rechts auf die Nutzung wenigstens eines Quadratmeters Boden" für den Menschen, schreibt Diana B. Wechsler in ihrem Essay im Katalog. Die Literatur von Jorge L. Borges bildet den Grund für eine weitere würfelartige Skulptur, die Mariano Sardón herstellte. Im Gedanken an Borges' letztes Erzählwerke "Das Sandbuch" (1975) hat der Künstler feinen Sand auf der Würfeloberfläche verteilt, in den man mit den Fingern schreiben kann. Dabei entsteht unmittelbar eine Interaktion mit einem elektronischen Gerät, das mittels Beamer-Projektion die Sandzeichnungen mit einer Vielzahl von Borges-Texten und Verweisen aus dem Internet überlagert. Das Unendliche, Unbegrenzte seiner "Bibliothek von Babel" wird ins 21. Jahrhundert transponiert. In den Würfelarbeiten, wie auch im Polyeder von Miguel Rothschild, kann man Spuren einer strukturalistischen Fantasie entdecken, wie sie von Borges oder Julio Cortazár.im Medium der Literatur vorgedacht wurden. In den beiden folgenden Ausstellungsbereichen zeigt die Ausstellungen Video-Arbeiten, etwa die beeindruckende Übereck-Projektion von Carlos Trilnick "Warum ein Quadrat malen" (2002) sowie Malerei, Objekte, Fotos und Dokumente der Kunst seit den 1960er Jahren. Neben einem aufgeschlitzten Bild von Lucio Fontana aus der Serie der "Concetto Spaziale" fällt hier besonders eine großformatige Fotoarbeit von Leonel Luna mit dem Titel "Die Eroberung einer Wüste" (2002) auf: Der Künstler veränderte und aktualisierte dafür eine Inkunabel der argentinischen Kunstgeschichte, das 1879 entstandene Ölgemälde "Die militärische Besitznahme des Rio Negro" von Juan Blame. Es zeigt General Roca und andere Verantwortliche des Mordes an der indigenen Bevölkerung hoch zu Roß bei der Eroberung Patagoniens.
Lunas stellt diese Szene exakt nach, doch tauschte er das Bildpersonal aus. Im Zentrum stehen nun jene, die der neoliberalen Umstrukturierung und der Wirtschaftskrise von 2002 zum Opfer fielen - Menschen also, die arm, arbeits- und obdachlos wurden. Ebenfalls bemerkenswert sind die Collagen, Zeichnungen und Objekte des politisch aktiven Künstlers León Ferrari (*1920), der immer wieder auf die Verbindung zwischen argentinischen und europäischen Diktatoren anspielte und Vergleiche zog zwischen Hitler, Franco, Perón, Videla und anderen Junta-Mitgliedern. Wegen seines Mutes gilt Ferrari bis heute für argentinische Künstler als Vorbild. Auch Horacio Zabala (*1943) bezieht sich mit seinen "Architekturentwürfe für Gefängnisse" auf die Zeit des Terrors in Argentinien. Es sind sarkastische Vorschläge für Gefängnisse im Wasser, auf einer Säule oder im Untergrund von Buenos Aires, die er bereits 1973/74 entworfen hat, also zu einer Zeit, als die Militärs dazu übergingen, ihre betäubten Opfer aus dem Flugzeug in den Rio de la Plata zu stürzen.
Aber auch die "Kastrationsschere" von Luis F. Benedit, aufbewahrt auf rotem Samt in einer edlen Holzbox, und weitere Objekte weisen in dieser Abteilung auf die gewaltsame Geschichte Argentiniens und Lateinamerikas hin. In einer Vitrine zeigt die Ausstellung Dokumente des Kampfes für die Freiheit der Kunst und gegen die Gewaltherrschaft. 1968 fand in der Großstadt Tucumán das Happening "Tucumán brennt" statt, das mit einem erweiterten Kunstbegriff, mit Aktionen und Raumgestaltungen gegen Autorität, Spießigkeit und Tabus anging und im Gedanken des damals weltweiten Jugendprotests agierte. "Tucumán brennt" war ein autonomes, kollektives und soziales Projekt, das in Argentinien ungemein befreiend für die Kunst wirkte. Im Kontext des Widerstands gegen den Staatsterror der "Mütter der Plaza de Mayo" entwickelten Künstler in Buenos Aires die direkte Aktionsform der Umrisszeichnung ("El Siluetazo") auf Böden und an Wänden, die mit einfachen Mitteln auf das Verschwinden so vieler Menschen aufmerksam machte. Diese Form des Widerstandes und der Aufklärung wurde später überall in Lateinamerika praktiziert, wo Gewalt und Unrecht herrschten.
Eine beeindruckende Videoarbeit zeigte Charly Nijensohn im Basement der Akademie: die dreiteilige Projektion erstreckt sich auf einer Länge von 22 Meter und zeigt in langen Einstellungen mit gewaltigem Sound die Schönheit von Ozean und Himmel der antarktischen Region. Die Farben des Himmels und die Wolken spiegeln sich im Wasser, darin stehen Menschen vereinzelt auf Stein. Die Größe der Natur zeigt sie klein, hilflos und einsam. "Der Schiffbruch der Menschheit", so der Titel der 2008 entstandenen Arbeit, will auf die ökologische Gefährdung in der Region aufmerksam machen und zeigt dabei, welche Verluste wir sehenden Auges riskieren oder bereits zu bilanzieren haben.
Die Kunst aus Argentinien besitzt viele Facetten, heute ist sie angeschlossen an globale Entwicklungen und Informationszusammenhänge, doch scheint sie besonders deutlich durch gesellschaftliche und politische Ereignisse der jüngeren Geschichte des Landes geprägt zu sein. In Argentinien musste man als Künstler bis zum Ende der Diktatur 1983 immer wieder kämpfen, denn die Freiheit der Kunst unterlag permanenten Repressionswellen, die sich gegen alle demokratischen Kräfte richteten. Kunst war von daher eine mehr oder weniger subtile Sprache des politischen Widerspruchs und der individuellen Behauptung. Eine solch kollektive Erfahrung teilen im Europa der Nachkriegszeit vor allem Künstler aus osteuropäischen Ländern. Diese Erfahrung verlieh der Kunst in Argentinien, die unter autoritären Bedingungen entstand, eine Bedeutung und Würde jenseits von Eventkultur und Kapitalisierung. Von daher belegt "Realidad y Utopia", dass Kunst, Individualität und gesellschaftliches Aufbegehren eine Trias bilden kann, die dazu verhilft, Menschenwürde aufrecht zu halten und echte Demokratie zu verwirklichen.
Die Ausstellung ist ein Projekt des Organisationskomitees für die Teilnahme Argentiniens als Ehrengastland zur Frankfurter Buchmesse 2010 in Zusammenarbeit mit der Akademie der Künste, Berlin. Zur Ausstellung erschien ein umfangreicher Katalog mit zahlreichen Abbildungen in spanisch u. englisch mit einer deutschen Beilage, Preis: 18 EURO.