von Peter Funken
Es ist keine neue Beobachtung, aber wenn es geschieht, überrascht es: mit der Zeit verändert sich unsere Wahrnehmung und so entdeckt man heute etwa in der Architektur und Formensprache der 1970er Jahre Eigenschaften, die man vorher nicht erkannte. So ähnlich geht es auch mit den Fotografien von Nan Goldin (*1953), die die Berlinische Galerie derzeit ausstellt. Es ist eine Wieder- oder Neubesichtigung von West-Berlin, seiner Szene und Subkultur vor der Wende, in den frühen 80er Jahren, als es schien, die Zeit sei stehen geblieben, als man nach Berlin zog, wie Nan Goldin sagt, um von Deutschland weg zukommen. 1982 kam sie zum ersten mal in den Westteil der Stadt und danach immer wieder. 1991 war sie Gast des DAAD und blieb für vier Jahre, denn "ich hatte in Berlin immer das Gefühl, nach Hause zu kommen". Nan Goldins Fotografien sind Bilder ihres Lebens, vor allem zeigen sie ihre "Familie" - Freunde, Bekannte und Liebhaber. Seit sie mit 14 Jahren ihr Elternhaus verließ, lebte sie mit einer Subkultur von Drag Queens, Transvestiten und Homosexuellen zuerst in Boston, ab 1978 in New York. Nachdem dort Aids grassierte, fast alle ihre Freunde tot waren und sich die Stadt zusehend veränderte, ging sie weg nach Berlin, auch um ihren sterbenskranken Freund Alf Bold zu unterstützen. Bold, Programmleiter im Arsenal-Kino, starb 1993. Ein 12-teiliges Foto-Tableau ist seinem Leiden und seinem Ende gewidmet. Es ist eine der stärksten Arbeiten dieser Ausstellung von 80 Fotos, die meisten davon wurden noch nie gezeigt. Anfang der 80er Jahren lebte Goldin in Berlin intensiv und extrem - in Bars wie dem Risiko, der O-Bar, der Hafen Bar, dem Café M oder der Diskothek Dschungel fanden damals wilde Partys statt, Exzesse waren an der Tagesordnung und Goldin erlebte Gewalt hautnah, als ihr amerikanischer Freund sie brutal zusammenschlug. Auch davon handelt die Ausstellung, dass man Personen und Orten wieder begegnen kann, so etwa dem jungen Blixa Bargeld bei einer Record Release Party 1994, Käthe Kruse und Wolfgang Müller von der "Tödlichen Doris" (Nikolaus Utermöhlen, Mitbegründer der Gruppe starb 1996 an Aids), einer kindlichen Tilda Swinton, Joachim Sartorius oder Piotr Nathan, den Goldin über die Jahre wieder und wieder porträtierte. Ihre Fotos zeigen die Nähe zu den Personen und Goldins Fähigkeit, Atmosphären momentan festzuhalten. Die 90er Jahre in Berlin, so Goldin während der PK, "das war die glücklichste Zeit meines Lebens". Doch klang dies traurig, geradezu sentimental, und so kommt das sich neu erfindende Berlin der Nachwendezeit in ihren Fotos nicht vor - nur ein einziges Foto zeigt die Tristesse von großen Plattenbauten in Marzahn. Die nach 1991 entstandenen Arbeiten reflektieren vor allem bereits Bekanntes, nur sind die Protagonisten mittlerweile älter geworden. Zum Berlin des neuen Jahrhunderts hat die Künstlerin kein besonderes Verhältnis mehr bekommen. Neben Porträtaufnahmen ist ihre Fotografie vor allem eine der Interieurs und der Stilleben - man sieht Bars und Puffs, Hotels und Wohngemeinschaften, gemachte und ungemachte Betten. Es geht um Menschen, um Beziehungen, und wenn der Blick aus dem Zugabteil das Draußen wahrnimmt, so als Porträthintergrund von Person, die sich in einem Transit befinden. Solche Orte des Übergangs, seien es Hotelzimmer, die keinem wirklich gehören, chaotische Räume in besetzten Häusern oder das Innere von Bars, die man nur zeitweise bewohnt - immer sind es Zwischenstationen, aber doch Stationen des Lebens. Dazu gehört auch das im Spiegel geknipste Bildnis, denn es fixiert vor allem eine Passage - im nächsten Augenblick ist alles anders, ist alles verschwunden. Die Wirklichkeit, die die Künstlerin mit ihren Arbeiten beschreibt, erscheint zweifelhaft; diesem Topos der Moderne kommt sie eigentlich mit ihren Dia-Shows bedeutend näher, als mit den schwarz gerahmten Fotos an den Wänden. Die Wände ließ sie für die Berliner Ausstellung in rot, grau, hellgrün, an einer Stelle in gold streichen. Auch durch das Farbkonzept, das unterschiedliche Themenbereiche scheidet und forciert, wird die Ausstellung zu einem Ort der Erinnerung. In der Erinnerung sieht Goldin dann auch die wichtigste Aufgabe ihrer Fotografie, selbst wenn das Foto nur eine schwache Form des Zurückholens ermöglichen kann. Früher arbeitete sie fast ausschließlich mit Dia-Shows, die anders als Fotos in Rahmen auf direkte Veränderung und Bewegung abzielten. Die Dia-Schauen waren im letzten Jahr in einer erfolgreichen Ausstellung bei C/O Berlin zu sehen und entstanden zu einer Zeit, als es für ihre Fotografie noch keinen Markt gab. Dia-Serien und Bücher - so Nan Goldin - seien die eigentlichen Medien ihrer Kunst, in denen ihre Fotos die größte Intensität und Intimität entwickeln können. Wegen einem Knebelvertrag mit einem Buchverlag kann sie seit Jahren keine neuen Bücher auflegen. Sie hofft, noch im Dezember aus diesem Vertrag herauszukommen, dann möchte sie gleich fünf neue Bücher veröffentlichen. Wie eingangs gesagt, mit den Jahren verändert sich die Wahrnehmung, und so erscheinen die Berliner Fotos von Nan Goldin heute wie Dokumente einer verflossenen, weit entfernten Zeit und ihres Lebensgefühls. Natürlich, immer noch gibt es Aids, auch Gewalt gegen Schwule, doch scheinen die schroffen Gegensätze und Grenzen von damals nicht mehr zu existieren. Der Blick auf die Subkultur marginalisiert sich damit zum Dokument eines West-Berliner Phänomens, das in seiner Zeit durchaus ungewöhnlich war in Deutschland, doch es handelte sich um eine kleine Menschengruppe, die wie verkapselt in der Kapsel West-Berlin lebte. Solches bietet durchaus Chancen für eine Mythologisierung, doch macht diese angesichts der gegenwärtiger Vitalität der Stadt tatsächlich vor allem sentimental, denn sie bietet kaum Ansätze zur Fortschreibung, für Alternativen oder Kritik. Nan Goldin versteht ihre Fotografie durchaus im Sinne eines politischen Statements, sie gibt aber zu, dass sie alt werde und nun in Paris eine Katze habe. Vielleicht wäre es tatsächlich gut, wenn sie - wie sie laut überlegte - von Paris, das sie hasst, noch einmal nach Berlin zurückkehrt und der Gegenwart mit ihrem radikalen Blick ins Auge schaut, denn etwas besseres als den Tod finden wir überall.