Johan Lorbeer,
"Still-Life Performances"

von Peter Funken
In: Kunstforum, Band 178, 2005, S. 230

Johan Lorbeer, geb.1950 in Minden, Deutschland; lebt in Berlin, Deutschland.


Wer im späten April diesen Jahres in die U-Bahnstation Berlin-Alexanderplatz hinabstieg, konnte etwas Ungewöhnliches und für manche Passanten kaum Fassbares erleben: In unmittelbarer Nähe der Eingangstreppe und unweit des Bahnsteigs stand in einer Höhe von zirka einem Meter ein Mann in der orangefarbenen Montur der Berliner Stadtreinigung frei schwebend im Raum. Mit der linken Hand an die Wand gelehnt und ohne jeden Kontakt zum Boden, überragte diese Person alle anderen und sorgte regelmäßig morgen wie abends für Menschenaufläufe. Johan Lorbeer, denn um diesen handelt es sich bei dem Mann in Orange, stand eine Woche lang zu belebten Fahrzeiten in besagter Haltung als Müllmann gekleidet, allen Fragenden Rede und Antwort. Lorbeer verkörperte bei dieser Performance, die im Zusammenhang der NGBK-Kunstaktion "U2 Alexanderplatz" stattfand, das "Proletarische Wandbild" - eine Performance, die der Künstler in unterschiedlichen Versionen mittlerweile schon oft gezeigt hat und stets mit ähnlichem Resultat: immer wieder löst er mit dieser Performance Neugierde, ungläubiges Staunen, ja Ratlosigkeit aus.

Das "Proletarische Wandbild" ist Lorbeers bekannteste Performance, die er in den letzten acht Jahren an unterschiedlichen Orten, in Innenräumen wie urbanen Räumen gezeigt hat. Bei der ursprünglichen Version dieser Aktion stand Lorbeer horizontal frei schwebend und in einer Höhe von 3,50 Meter an einer Auüenwand und hielt dabei in der rechten Hand den Kehrbesen. In den letzten Jahren zeigte der Künstler das "Wandbild" auch in anderer Form, so auch am Alexanderplatz - wo er nur mit einer Hand den Kontakt zur Wand suchend und lotrecht im Raum schwebt.

Einen grossen Teil seiner Aktionen bezeichnet Lorbeer unter dem Begriff Still-Life Performances. Das "Proletarische Wandbild" ist dabei eine von insgesamt sechs Still-Life Performances. Lorbeer ist sich der Mehrdeutigkeit der in diesem Begriff verwendeten Worte in der deutschen und englischen Sprache durchaus bewusst. Sie bezeichnen seine künstlerischen Intentionen umfassend, denn es geht ihm bei seinen Performances durchaus um die Vereinigung von Widersprüchlichem, also um Aspekte des Paradoxen, die sich in seinen lebendig-stillen Darbietungen begegnen und dabei anschaulich bezeugen, dass es das Leben gibt, dass es sein Leben gibt, dass er noch (engl. = still) am Leben ist. Damit berührt Lorbeer in diesen Aktionen performativ das Thema menschlicher Existenz im Sinne einer radikal subjektiven Frage, die davon handelt, dass die eigene Lebendigkeit tagtäglich und immer wieder neu unter Beweis zu stellen sei und letztlich nur in Form von Ausnahmesituationen wirklich bewusst wird. Von daher erscheint der Künstler während seiner Performances durchaus als ein im tatsächlichen Wortgebrauch "Entrückter", der dabei auch die Rolle eines "Stellvertreters" einnimmt - für den Betrachter, für uns alle.

Durchaus könnte man vermuten, dass Lorbeer mit seiner Müllmann-Performance ein christlich-abendländisches Paradigma thematisiert und es dabei gleichzeitig in Frage stellt: gemeint ist die unsere Kultur fundamental begründende Gestalt des zur Schau gestellten Christus am Kreuz, ein Leidensbild, das völlig andere Vorstellungen und Reaktionen auslöst, als etwa der sitzende, in sich ruhende und meditierende Buddha. Anders als beim gekreuzigten Heiland, verbinden sich Johan Lorbeers Aktionen nicht mit bedrückenden Vorstellungen an Tortur und Tod, sondern evozieren viel eher Assoziationen an ein freies Schweben und eine künstlerische Befragung der Naturgesetze. Und weil bei seiner Aktion auch kein Marterinstrument, wie etwa das Kreuz, eine Rolle spielt, stellen sich bei Lorbeers Performance eher Bilder und Vorstellungen vom Schweben ein, wie sie uns von Engel-Darstellungen seit Albrecht Dürer bis hin zu Paul Klee geläufig sind. Zugleich sind Lorbeers Aktionen vollends lebensnah und vital, denn der Künstler kommuniziert frei an der Wand stehend oder lehnend mit seinem Publikum über (fast) alles, was er gefragt wird.

In Hinsicht auf eine Tradition des Körperschemas, lehnt Vergleiche mit dem gekreuzigten Christus oder mit Szenen gemarterter Heiliger grundsätzlich ab. Auf Vorbilder befragt, verweist er auf die Ausdrucksqualitäten archaischer Skulpturen, wie man sie von minoischen und hethitischen Menschen- und Gütterdarstellungen kennt. Damit ist ein Ausdruck gemeint, der auf Gegenwart und Anwesenheit, vielleicht auch auf Beseeltheit und Ehrung zielt, sich aber kaum an der Leidens- und Verklärungsideen des Christentums orientiert. Neben einer, in die Geschichte der Frühkulturen weisenden Traditionslinie, erkennt Johan Lorbeer prägende Vorbilder für seine gesamte Performance-Kunst im plastischen Werk Alberto Giacomettis und Duane Hanson, wie auch im performativen Werk der Vorgängergeneration, insbesondere dem von Gilbert and George, Denis Oppenheim und Timm Ulrichs.

Die Wirkung, die Lorbeer mit dem "Proletarischen Wandbild" wie auch mit anderen Performances beim Publikum erzeugt, ist ausserordentlich, weil er nicht nur verblüfft und irritiert, sondern zudem bei den Zuschauern etwas frei setzt und sie anscheinend sogar von fest gefügten Vorstellungen über das Dasein befreit. Über dieses, aus dem Erstaunen gewonnene Erlebnis wollen die Menschen reden und sich austauschen. Für manche ist das jedoch noch nicht genug, denn da man angesichts des frei schwebenden Künstlers kaum den eigenen Augen zu trauen mag, entsteht bei einem Teil der Zuschauer eine fast kindliche Unbefangenheit, die dazu führt, dass die Menschen den schwebenden Künstler nicht nur darauf ansprechen, wie er sich fühlt, wie denn dies alles möglich sei, sondern ihn sogar anfassen, als müsse man sich der Faktizität des Geschehens unbedingt versichern und bestätigt sehen, dass man nicht träumt. In dieser Situation gehört Lorbeer sich nicht mehr alleine, er wird zum öffentlichen Gut, das man begreifen und berühren will - ganz ähnlich einem Glückssymbol. Die Berührung wird von vielen Zuschauern keineswegs als Eingriff in die Intimsphäre eines anderen realisiert, so dass man den Eindruck gewinnt, mit dieser Aktion habe sich Johan Lorbeer nicht nur aus dem Einfluss der uns alle und permanent dominierenden Gravitationskraft entfernt, sondern besitze etwas geradezu übersinnliches und gehöre eher zu jenen mythischen Wesen, die eben enthoben und nicht an den Boden gebunden sind. Seine profane Arbeitskleidung tut diesem Eindruck anscheinend keinen Abbruch, unterstützt ihn womöglich, denn Lorbeers orangefarbene Montur unterdrückt das Individuelle, und da es sich bei seinem Habit nicht um eine martialische Uniform handelt, besitzt es auch keinen einschüchternden oder Autorität vermittelnden Charakter.

Die beim Publikum ausgelöste Irritation bildet eine erste Reaktion auf das Erscheinungsbild der Performance. Sie soll jedoch nur einen vorläufigen Moment auf dem Wege zu einer Erkenntnis darstellen, die sich bei all seinen Aktionen einstellen kann. Eine solche Erkenntnis könnte von der Isoliertheit des Menschen, als einem zur Gemeinschaft verdammten Einzelwesen handeln und somit von seiner existentiellen Situation, als endliches und immer wieder gefährdetes Individuum. Lorbeer sieht sich in diesem Kontext als exemplarisches Anschauungsmaterial, das dem Betrachter bildhaft und radikal vor Augen führt, in welcher Situation sich jeder Einzelne von uns befindet. Angesichts einer Haltung, die üblicherweise nicht für Menschen gemacht ist und dem entsprechend als Ausnahmesituation erlebt wird, können sich Fragen einstellen, wie die nach der Orientierung im Leben oder dem eigenen Standpunkt. Johan Lorbeer versteht seine Still-Life Performances als visuelles Angebot und beschreibt die während der Aktionen eingenommene Position, als eine "Dienstleistungssituation". Das "Proletarische Wandbild" war nicht die erste Performance Johan Lorbeers, es ist aber wahrscheinlich seine ursprünglichste und radikalste Arbeit, weil sie die Vorstellungen menschlicher Repräsentation im Raum regelrecht auf den Kopf stellt. Der Titel für das "Proletarische Wandbild" leitet sich aus der Terminologie der sozialistischen Kunstgeschichte der DDR her, die mit diesem Begriff alle in Form von Relief, Halbskulptur, Mosaik und Malerei gestalteten Bildnisse zu Ehren des Arbeiter- und Bauernstaates bezeichnete. Sucht der Strassenkehrer sein Arbeitsfeld üblicherweise am Boden der Stadt, so findet es Lorbeer beim "Proletarischen Wandbild" an der Wand und in luftiger Höhe. Hier ist übrigens auf den Unterschied hinzuweisen, der zwischen den Begriffen "Proletarisches Wandbild" und "Proletarisches Standbild" existierte, wobei Lorbeer für seine Performance den Begriff des Wandbildes okkupiert hat, weil er davon ausging, dass die Müllmann-Performance (in ihrer ursprünglich horizontalen Darbietung) aus einer gewissen Entfernung betrachtet, seinen in 3,50 Meter Höhe aus der Wand ragenden Körper im ersten Moment wie ein 2-dimensionales Bild und nicht wie eine Skulptur erscheinen liess. Die in den Raum ragende, plastische Körperform erkennt man als Zuschauer eigentlich erst dann, wenn man sich dem Künstler nähert und natürlich am besten, wenn man unter ihm steht. Dann aber kippen die Verhältnisse vollends, denn die optische Wahrnehmung vermittelt den kurzfristig irritierenden Eindruck, der Müllmann stehe auf dem Boden und man selber schwebe im Raum.

Bei dieser, wie bei allen anderen Still-Life Performances arbeitet Johan Lorbeer mit mechanischen Hilfsmitteln. Die Stellagen aus Metall und Kunststoff, die ihn tragen, werden stets von gut sitzender Kleidung umhüllt. Lorbeers Aktionen dauern meist Stunden - es sind "long endurance Performances" - und die ihn tragende Metallkonstruktion, wie auch seine Bekleidung muss guten sitzen, damit sich dem Betrachter ein Zeitmoment von entspannter Normalität vermittelt. Alle Konstruktionen sind deshalb ergonomisch entwickelt und Lorbeers Kürper angepasst worden. Während der Zeit der Performance ist er in den Metallstellagen fixiert und kann Teile seines Körpers bewegen. Der Einstieg in die Halterung und das Anlegen der Kleidung, wie auch das Aussteigen aus der Konstruktion wird nicht zum Geheimnis gemacht, sondern findet öffentlich statt, so dass immer eine Reihe der Betrachter miterlebt, wie das vermeintlich Unmögliche zustande kommt, wie die Technik der Performance funktioniert, wie ihr "Innenleben" aussieht. Solche Vorbereitungen - und dazu gehört ebenfalls das Befestigen der Körpergerüste an Wand oder Boden - sind fester Bestandteil von Lorbeers Performances, der nicht in eine theatralische Rolle schlüpft, sondern den Ein- und Ausstieg in eine Performance als einen notwendigen Realitätstransfer versteht.

Die ersten Aktionen hat Johan Lorbeer bereits Mitte der 70er Jahre als Student an der Akademie in Nürnberg durchgeführt, damals meist in Zusammenarbeit mit Reiner Bergmann. Diese frühen Arbeiten, etwa "Besuch bei Oma" oder "Gespräch in Kalchreuth" (beide 1976) sind anscheinend nicht als publikumsnahe Performances geplant worden, sondern sind arrangierte Szenen in Hinblick auf fotografische Endprodukte. Bei "Gespräch in Kalchreuth" sassen Lorbeer und Bergmann in den gekappten Baumkronen von zwei Weiden - das Foto zeigt, wie die Oberkörper der beiden aus den Bäumen herausragen, die Köpfe einander zugewandt. Es scheint eine Unterhaltung über eine Distanz von zirka 20 Metern stattzufinden. Die Szene wirkt komisch, aber auch ein wenig entrückt, fast so, als wäre sie aus einem Märchenbuch. Komisch und absurd wirken die zwei Aufnahmen vom "Besuch bei Oma": Eine alte Frau mit schwarzem Hütchen sitzt zwischen den beiden Künstlern auf dem Sofa in ihrer altmodischen Wohnstube. In der zweiten Aufnahme wiederholt sich diese Situation, nur dass die Künstler diesmal hohe weisse Papiermasken tragen, ähnlich denen des Ku-Klux-Klan. Der Besuch bei der alten Dame bekommt dadurch etwas Hinterhältiges. Christian Janecke hat darauf hingewiesen, dass sich die frühen Aktionen des Duo Lorbeer / Bergmann mit dem Thema "lebender Bilder" in der Fotografie auseinandersetzen und es satirisch konterkariert. Der Hinweis auf die Bedeutung der Fotografie leuchtet allein schon deshalb ein, weil Lorbeer seine gesamten späteren Performances immer parallel in verschiedenen Bildmedien vorbereitet und begleitet hat: Skizzen, technische Zeichnungen, aber vor allem Fotos, Videos und Collagen entstanden und entstehen jeweils im Vor- und Umfeld einer Performance, sie begleiten diese im Sinne einer forschenden Tätigkeit, wie auch als Dokumentation und als verkäufliche Kunstwerke, denn von Lorbeers konkreten Aktionen bleibt nach deren Ende und dem Abbau der Stellagen ausser Bohrlöchern nichts mehr übrig. Die Fotografie spielt in diesem Sinne bis heute eine grosse Rolle in seinem Schaffen, dass seine Hauptwirkung zwar in der angestrebten Präsenz des Authentischen sucht, jedoch flankierender Massnahmen bedarf, um zu entstehen und um sich besser zu vermitteln.

In den späten 70er und frühen 80er Jahren hat Johan Lorbeer eine Reihe von Aktionen entwickelt und durchgeführt, die seine späteren Performances zwar nicht vorwegnahmen, für diese aber Grundlagen schufen und dabei wesentliche Momente für zukünftige Themen erforschten. Neben der Untersuchung von Wirkung und Bedeutung der Figur im Raum, galt sein künstlerisches Interesse vor allem dem Thema der Farbe als plastischem Repräsentationsmittel. Lorbeer interessierte dabei die mögliche Verbindung beider Bereiche rüumlicher Repräsentation, also eine Verbindung von Farbe mit performativen Aspekten. Vor allem Industriefarbe wurde von Lorbeer in diesem Sinn als plastisches und performatives Ereignis wahrgenommen und vorgeführt. Farben, so Lorbeers Einschätzung, die sich übrigens mit der einiger Künstler der Pop-Art deckt, begegnen uns als industrielles Produkt nicht nur auf den Oberflächen der Waren- und Gebrauchswelt, sondern ist dieser als Ausdrucksträger immanent - egal ob in der Nahrung, in Filmen oder als Bestandteil von Architektur. In diesem Sinne ist Industriefarbe seit dem 20. Jahrhundert zum öffentlichen Akteur geworden. In Lorbeers bildnerischen Arbeiten und den Aktionen tritt Industriefarbe als bewusst unmalerisch eingesetzter Handlungs- und Ausdrucksträger in Erscheinung.

Mit "DHARMA KARMA PHARMA" (zusammen mit Reiner Bergmann, 1985), "Selbstporträt mit Frotteehandtüchern" sowie "Rothko-Fax", (1994) sollen hier drei Arbeiten benannt werden, die Lorbeers Entwicklung seit Mitte der 80er Jahre belegen und zeigen können, wie das Körperbild mit Farbrepräsentationen verschränkt wurde. An diesen Aktionen lässt sich ebenfalls darstellen, wie Lorbeer innerhalb eines knappen Jahrzehnts aus der tastenden Position eines jungen Künstlers, der die Performance wie auch andere Genre der aktuellen Kunst als zu isoliert und zu gering miteinander verbunden begreift, an einen Punkt gelangt, an dem er eine performativ eigenständige Position entwickelt, die sich formal und thematisch übergreifend artikuliert und dabei neue inhaltliche und kommunikative Verbindungen kreiert. Die Fotoarbeit "Selbstporträt mit Frotteehandtüchern" zeigt den Künstler in neutraler Kleidung (weisses Hemd, schwarze Hose) stehend vor einer monochrom blauen Bildtafel, die sich als allgemein abstrakte Formulierung für Himmel oder Hintergrund lesen lässt. Auf seinen Armen trägt der frisch rasierte Künstler einen Stapel rosa- und fleischfarbener Handtücher. Mit dieser Haltung und der Anspielung auf Fleischliches zitiert Lorbeer die Darstellung der Pietà. Jedoch entsteht in der Reduktion von Geste, Farbe und Material im Unterschied zur Trauer der Pietà ein undramatisches, wohl aber persönliches Selbstbild. Die Performance "Rothko-Fax" integriert alle Elemente, die beim "Selbstporträt" eine Rolle spielen, nur dass Lorbeer bei dieser Still-Life Performance rasant nach vorne zu stürzen scheint, ein Moment des Fallens, der über Stunden festgehalten wird. Dabei steht der Künstler mit den Füssen in zwei Farbeimern, die jeweils mit 15 Liter Dispersionsfarbe gefüllt sind; die Farbe kriecht ihm die Hosenbeine hoch. In beiden Eimern lagern zudem Metallträger und Kontergewichte, die seinen Körper in der Schräglage stabilisieren. Bei dieser Aktion befindet er sich in einer absolut prekären Situation: ein Sturz scheint unvermeidlich. Anders als bei Yves Kleins berühmter Fotomontage "Der Maler des Raumes stürzt sich ins Leere!" (in: "Die Zeitung eines Tages, Sonntag, 27. November 1960") geschieht all dies bei Lorbeers Aktion "live" - oder anders gesagt, alles bleibt real in der Schwebe, geschieht dem Anschein nach. Der Sturz, der eigentlich im Zeitraum von Sekunden passiert, wird bei "Rothko-Fax" zu einem permanenten Ereignis und entzieht sich somit einer klaren Einordnung auf der Zeitachse. Der zu erwartende Unfall tritt nicht ein - er ist angekündigt, bleibt aber dauerhaft zukünftig. Damit erscheint die Zeit als wesentlicher Faktor für jegliches Geschehen, während der Performance wie Schock gefroren oder erstarrt. Natürlich verstreicht die Zeit dennoch real weiter, aber durch die Performance wird unser Gefühl für ihr Verstreichen irritiert. Die bei "Rothko-Fax" dauerhaft erlebbare Situation steht von daher konträr zur Erwartung und Erfahrung - also dem Fall - und dies ist für manche Betrachter ein ungeheuerlicher Vorgang.

Neben Still-Life Performances, die das horizontale oder vertikale Moment vorstellen und jener, die sich mit dem Fall befasst, hat Lorbeer Performances entwickelt, die das Sitzen thematisieren. Bereits 1988 zeigte er die Aktion "Zu Ehren meiner Mutter", bei der er auf einem Stuhl sitzt und von 26, scheinbar frei im Raum angeordneten Porzellantellern umgeben ist. Die schwebenden Teller sind mittels dünner Stangen mit seinem Anzug verbunden. In dieser Situation wird er selbst Teil der Halterung und seine minimalen Bewegungen - alles andere könnte zum Scherbenchaos führen - übertragen die Teller als vibrierende Ausschläge. Diese Hommage an die Mutter zeigte Lorbeer unter anderem im gut besuchten Speisesaal von Kloster Irsee.

Bei seiner "Büro-Performance", die er 1994 entwickelte, sitzt der Künstler leicht erhöht an einer Schreibtischplatte und arbeitet an einem Laptop. Mit den Füssen steht er auf einem klassischen Grossraumbüro-Blumenkasten. Es existiert weder ein Stuhl, auf dem er sitzen könnte, noch hat der Arbeitstisch Beine - alles schwebt frei und hält sich doch stabil im Raum. Bei dieser Performance entsteht ein absolut illusionskräftiges Bild, das sich nur einstellen kann, weil die Metallstellage, die ihren tiefsten Ankerpunkt im Blumenkasten hat, sehr nah an Lorbeers Körper entlang geführt wurde und nicht sichtbar ist. Während der Aktion zeichnet der Künstler am Laptop in einem PC-Programm an ergonomischem Büromöbeldesign; er arbeitet sozusagen an seinem eigenen Körperbild und dessen Fassung. Lorbeers "Büro-Performance" handelt von illusorischen Vorstellungen in einer Arbeitswelt, die sich durch Elektronik und andere Technologien von ihren Zwängen zu befreien hofft, ohne wahrzunehmen, wie abhängig sie dabei von der Technik wird. Lorbeer zeigt hier, wie wir uns gerne sehen wollen, wie wir gerne sein möchten: unabhängig von Zwängen und autonom von der Umwelt. Dies ist in Teilaspekten - auch zum Beispiel im Falle der Performance - durchaus möglich, wenn die physikalischen Probleme gemeistert sind. In Hinblick auf die Komplexität von individueller und gesellschaftlicher Existenz, Natur und Universum, handelt es sich bei dem Traum von absoluter Autonomie, um einen Trugschluss, um eine kulturspezifische Illusion, denn jede neue Freiheit hat neue Unfreiheiten im Gefolge. Immanuel Kant hat vom Menschen, als einem Wesen gesprochen, das einen grossen Hang zur Illusion und ihren Bildern besitzt. In der "Büro-Performance" findet diese Aussage ihre perfekte Anschauung.

Auch Lorbeers neueste, im Jahr 2004 entwickelte Arbeit "Spreewasser-Analyse" befasst sich mit der Abhängigkeit des Menschen - genauer gesagt, mit seiner Abh&uauml;ngigkeit vom Wasser. Für diese Performance werden 800 Liter Spreewasser in ein grosses Aquarium (2,2 L x 0,6 B x 0,7 H m) gefüllt, in das an einer Stirnseite ein fast zwei Meter langer, grauer, wasserdichter Latexhandschuh hineinragt. Lorbeer "klebt" bei der "Spreewasser-Analyse" zusammengekauert aussen am Aquarium, während sein Arm sich im Handschuh und im Wasserbassin befindet. Das Spreewasser ist schmutzig-grün, der überlange Arm erinnert, wenn der Künstler ihn bewegt, an ein urzeitliches Tentakel. Verglichen mit dem Latexhandschuh, der durch die Lichtbrechung des Wassers zudem vergrössert erscheint, wirkt Lorbeers Körper klein, und es macht den Eindruck, als sei er aus dem Gummiarm herausgewachsen. Wer ihn befragt, bekommt Auskunft über die Spreewasserqualität in Berlin. "Spreewasser-Analyse" kann an jedem beliebigen Ort stattfinden und wird dann nach dem dortigen Fluss oder Wassergebiet benannt.

Mit dieser Performance greift Lorbeer ein Thema auf, dessen problematische Dimension vor allem in ökologischen und gesellschaftspolitischen Zusammenhängen vermutet wird. Als Künstler interpretiert er die Frage nach unserem Verhältnis zum Wasser und zum Umgang mit dem lebensbedingenden Stoff radikal subjektiv, in dem er ein Bild und eine Situation erfindet, das seine und unsere Abhängigkeit vom Wasser eindrucksvoll zeigt.

Im Vergleich zu den Still-Life Performances der letzten Jahre entwickelt Lorbeer für diese Arbeit eine Konfiguration, die ihn weniger deutlich als bei früheren Aktionen zum Zentrum des Geschehens macht.

Ein Wirkungsmoment aller Still-Life Performances liegt in ihrem zeitlich beschrünkten Rahmen sowie in der daraus resultierenden Intensivierung der Erlebnismöglichkeiten. Schon wegen der Bedeutung des Zeitfaktors unterscheiden sich Performances von statisch existierenden Kunstwerken - etwa von Bildern - die einen optionalen Anspruch auf Dauerhaftigkeit erheben. Performances dauern im Allgemeinen allein aufgrund der Körperfunktionen von Performer und Publikum immer nur relativ kurze Zeit, aber in dieser Zeit realisiert sich sowohl ihre Entstehung durch den agierenden Künstler, wie auch ihre Wahrnehmung durch die Betachter. Im Falle der Still-Life Performances ist Lorbeer Akteur wie auch Kunstwerk. Das relativ kleine Zeitfenster, das sich den Zuschauern als Anwesende bei einer Performance öffnet, kreiert somit eine aussergewöhnliche Situation, die als Chance und Qualität der Teilhabe begriffen werden kann. In Anlehnung an ein Statement von John Cage hat er einmal geäussert: "If you don`t have something to do, do it on stage" - wobei sich dann die Frage stellt, wo befindet sich die Bühne Johan Lorbeers - an einer Wand, im leeren Raum, im Paradox, inmitten von Übergängen oder in den Zwischenräumen der Zeit?

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