von Dr. Peter Funken
Es ist eine ungemein schöne und anregende Situation, auf die man in Bochum-Weitmar trifft: In einem großzügigen Park steht innerhalb der Ruine einer mittelalterlichen Burg der moderne Kubus der Ausstellungshalle "Situation Kunst (für Max Imdahl)". Der Name des bedeutenden Kunstwissenschaftlers Imdahl (1925 - 1988) ist eng verknüpft mit dem Kunstwissenschaftlichen Institut der Ruhr-Universität Bochum, wo er neben Lehr- und Forschungsaufgaben auch die moderne Abteilung der Kunstsammlungen der Universität betreute. In Bochum liegt die besondere Situation vor, dass die Universität über eine hervorragende moderne Kunstsammlung verfügt. In diesem Gedanken ist "Situation Kunst (für Max Imdahl)" nicht nur Ausstellungszentrum, sondern ebenfalls Sammlungsstätte und Ort theoretischer, wie praktischer Einübung und beruflicher Vorbereitung für Studierende im Fach Kunstgeschichte. 2010 wurde die Fläche der 1991 entstandenen fünf Ausstellungshäuser durch den Bau eines viergeschossigen Kubus nahezu verdoppelt. Ohne das Engagement des Ex-Galeristen Alexander von Berswordt, der das Konzept entwickelte, know how, seine Sammlung sowie das Gelände zur Verfügung stellte, hätte all dies nicht entwickelt werden können. Seine ehemalige Galerie m befindet sich in unmittelbarer Nähe der musealen Anlage, wo beständig bestechend gute Arbeiten und Raumprojekte von Richard Serra, David Rabinowitch, Maria Nordman, Francois Morellet, Norbert Kricke, Gotthard Graubner, Jan Schonhooven, Lee Ufan und anderen zu sehen sind. Ihre Präsentation fördert die Wirkung perfekt.
Im Kubus hingegen finden Wechselausstellungen statt: aktuell die des in Neuenrade lebenden Bildhauers Erich Reusch (*1925). Es mag überraschen, dass die ersten Exponate der Ausstellung aus dem Jahr 1935 stammen; Reusch war damals 10 Jahre alt und lebte in Wittenberg-Lutherstadt an der Elbe. Sein Vater hatte ihm eine Fotokamera geschenkt und das Kind fotografierte sein Zimmer, die Eltern und den Fluss. Doch es macht Sinn diese sehr frühen Arbeiten auszustellen, denn sie zeigen bereits das Interesse des späteren Architekten und Künstlers an Raumsituationen. Nach dem Krieg studierte Reusch in Berlin, u.a. bei Hans Uhlmann. Seit 1954 - Reusch war nun als freischaffender Architekt in Düsseldorf tätig - gelangen ihm mit Reliefs aus Holz und Glas plastische Arbeiten, die heute ähnlich Bahn brechend erscheinen, wie Lucio Fontanas Konzept des Concetto Spaziale (1947) und den ab 1958 entstehenden aufgeschlitzten, monochromen Bildern. Auch Reusch ging es um eine Öffnung und Neubestimmung von Räumen, um die Verbindung von Kunstwerk und Raum, Architektur und Skulptur. Arbeiten wie sein Messestand für Schorsch auf der Düsseldorfer Kunststoffmesse 1954 belegen dies eindrücklich. In seiner futuristischen Vorstellung von Raum war eigentlich jedes neuartige Material, jede wissenschaftliche und technische Idee in Hinblick auf ihre Verwendung in Kunst, Architektur und Städtebau experimentell zu untersuchen und nach Möglichkeit einzubeziehen. Zu seinen vielleicht spektakulärsten, im Entwurfsstadium verbliebenen Arbeiten zählen die Laser- und Ultraschallbahnen, die er 1969 konzipierte, wobei letztere im Stadtraum plötzlich hörbar sein sollten, um Passanten unverhofft einem Hörereignis auszusetzen, das beim Durchschreiten des Raumes jäh wieder abbricht. Mit Lasertechnik wollte Reusch gleichsam im Raum zeichnen, visuell-immaterielle Momente schaffen, die körperlich durchdrungen werden konnten. Beide Projekt kamen wegen Unausgereiftheit der Medien zum erliegen, erinnern aber im Ansatz an die Bereitschaft, die auch bei dem Plastiker Adolf Luther anzutreffen war, Raum und Kunst, Kunst und Technik in utopische Verhältnisse zu promovieren. Lange bevor Carl Andre dies tat, hatte Reusch seine Skulpturen vom Sockel und damit von ihrer Vertikalorientierung gelöst. Mit seinem Unterfangen, Kunst und Architektur in ungewohnt neue Verbindung zu bringen, Räume für Menschen zu öffnen, sie mit modernsten Medien auszustatten und zu konfrontieren, begegnet uns ein Zukunftsoptimismus, eine positive Haltung mit technischen Mitteln Kunst und Gesellschaft transparent und demokratisch zu entwickeln. Dies mag typisch für die späten 1960er und frühen 1970er Jahre sein, und findet Ausdruck z.B. in der ultra-modernen Gestaltung des Münchener Olympia Stadions und Parks durch Behnisch & Partner oder Adolf Luthers Moon-Project. Auch Reusch realisierte in dieser Zeit große plastische Arbeiten im Außenraum, so sein Wasserrelief auf dem Gelände der seit 1964 neu entstehenden Ruhr-Universität in Bochum, einer bemerkenswerten Baustelle im Westen, vergleichbar dem Olympiagelände in München. Eine besondere Erfindung des Künstlers waren die 1970 entwickelten "Elektrostatischen Objekte" - Plexiglas-Kästen in die feinste Gasruß-Pigmente gefüllt wurden. Manchmal besitzen die Plexiglasinnenflächen dünne Rillen, so dass sich je nach Raumklima und statischer Aufladung die Russpartikel ansammeln und sich in wechselnder Verdichtung neu und lose zusammenstellen können. In ihrer Präsenz und Transparenz artikuliert sich "Entstofflichung" und "Dezentralität", wie Bernhard Kerber und Manfred Schneckenburger feststellten. In der Verbindung von klar definierter Außenform der Skulptur und dem Farbstaub, der sich auf den Innenflächen und dem Boden nach elektrostatischen Gesetzen ablagert, entsteht den Arbeiten elementare Spannung und eine Dimension des sinnlich Konkreten. Reusch ist der Qualität des Raumes auf der Spur, er arbeitet im Raum und mit ihm, er versteht ihn, als von energetischer Qualität erfülltes, offenes Kraft- und Spielfeld. Demnach, so Karen von Berg, geht es ihm um mehr, als um den Zusammenhang von Masse, Gravitation und Materie.
Handelt Reuschs Ausstellung "Der Raum ist das Ereignis" im ersten Teil von der Entwicklung eines utopischen, experimentell zu erforschenden Raumbegriffs seit den frühen Anfängen, so zeigt der Künstler im oberen Geschoß des Kubus eine ergreifende und komplexe Rauminstallation, in der ältere Arbeiten - etwa zwei Skulpturmodelle mit rostiger Oberfläche - genauso ihren Platz finden, wie mehrere "Elektrostatische Objekte" und eigens für die Ausstellung entwickelte, an die Wände montierte unregelmäßige Farbfelder in kräftig leuchtenden Farben, so dann Wandbemalungen oder auch spontan hin gekritzelte Bleistiftspuren. Die Installation wirkt im ersten Moment verwirrend, wie zufällig gebaut, ist es aber keinesfalls und dies kann erst durch längeres Hinschauen und die eigene Bewegung im Raum, durch wiederholtes Sehen, Erkennen und Vergleichen von Details erkannt und dann begriffen werden. Was hier zuerst leicht, locker und einfach erscheint, wird nach einiger Zeit zunehmend als ungemein komplex, präzise und beziehungsvoll verstanden, wobei darin ja noch kein grundsätzlicher Widerspruch liegen muss. Nichts ist aber hier zufällig, alles hat seinen Sinn und seinen Ort. Und dann geschieht zudem in diesem Gesamtkunstwerk etwas Unerwartetes und im ersten Moment sogar Überforderndes, denn in die fast schon fröhliche Farbigkeit im Raum und in den harmonischen Klanghintergrund, der durch die Einspielung von Frederic Chopins Prélude entstanden ist, bricht urplötzlich und mit Gewalt ein explosionsartiges Geräusch, ein zerstörender Choc - als sei momentan eine große Glasfassade im Raum zusammengestürzt. Es könnte das Herz stillstehen, wenn die angenehm hin fließende Klaviermusik Chopins auf solch brachiale Weise zerstört und ins Desaströse katapultiert wird. Man ist sich danach kaum mehr sicher, was noch geschehen wird. Selbst die einmalige Irritation durch die Zerstörung von Harmonie beeinflusst von da an die Wahrnehmung des Vorhandenen der Installation. Die Sache ist spätestens jetzt ernst geworden, völlig real. Die Frage der Kunst, das ist sicher, ist bei Reuschs Bochumer Installation keine des Dekorativen oder angenehm Verspielten, sondern eine exemplarische Darstellung existentieller Art, die den Raum immer und überall als gegebene Voraussetzung des Daseins anerkennt. Egal ob bei der Erfahrung der Schönheit von Musik oder der Katastrophe eines Bombeneinschlags - Erfahrung findet immer im Raum statt, sie kann schockierend sein oder harmonisch, als Kategorie ist Raum universal und für Menschen existentiell. Mit seiner Installation gelingt es Reusch - wie auf einem Teststand im Labor - diese komplexe Situation, die den Menschen unmittelbar betrifft, in einem Kunstraum anschaulich zu machen, in einer von ihm erdachten, experimentellen Anordnung. Von daher kann der Besuch seiner Ausstellung, als ein besonderes Ereignis erlebt werden, bei dem man zu erkennen vermag, was Raum essenziell bedeutet, wie umfassend und grundsätzlich seine Erfahrung sein kann, wenn ein Künstler mit dem Vermögen Erich Reuschs darin agiert - er macht den Raum zum Ereignis!