von Peter Funken
In: Kunstforum, Band 160, 2002, S. 295
Gerd Rohling, geb. 1946 in Krefeld, Deutschland; lebt in Berlin, Deutschland.
"You got the look" (Prince)
"Wenn ich sehe, wie formvollendet jemand in einer Bar in Neapel seine Kaffeetasse hält, so bringt mir das mehr für meine Arbeit als mancher Galerierundgang. Es kommt mir auf die Genauigkeit des ,Bildes' an, von dem ich lerne und profitiere, und da hat das spezielle Halten einer Tasse fär mich mehr Gewicht und einen größeren Aufforderungscharakter etwas herzustellen, als viele Kunstwerke, die mir hier begegnen", sagt Gerd Rohling.
Gerd Rohling lebt in Berlin, einen guten Teil des Jahres ist er aber unterwegs, arbeitet in Neapel, Mumbai, Rio, in Ghana, Thailand oder den USA. Wichtig sind ihm Szenen- und Bildwechsel, die Suche nach Möglichkeiten, eigene, neue Bildern an fremden Orten zu implantieren, ein crossover europäischer Tradition mit fremden Kulturen zu inszenieren und herauszufinden, was vor Ort existiert, was fehlt, was gebraucht wird. Davon soll dieser Text handeln, und er wird es an konkreten Beispielen tun, an realisierten und noch nicht realisierten Projekten und Konzepten des Künstlers Gerd Rohling.
Den Reiz, der von großen Städten ausgeht, beschreibt Rohling, wenn er sagt: "Lieber arbeite und stelle ich in Mumbai (ehemals Bombay) oder in Accra aus als in Bielefeld und München, da mich Städte wie Mumbai in ihrer Dominanz im Vergleich zu meiner Arbeit viel mehr dazu zwingen, die visuelle Kraft und Deutlichkeit des Hergestellten zu überprüfen und weiterzuführen. Die Konkurrenz von Formen, nicht die von Attitüden, ist an solchen Orten ausgeprägter. Die Umgangsformen der Leute im alltäglichen Handeln, das Kultivierte im Notwendigen und die sich daraus ergebenen Bilder, sei es z.B. im Tro-Tro-Kleinbus in Ghana oder im Zugabteil in Indien, öffnen mir die Augen für das Wesentliche und helfen mir beispielhaft, mein Weltbild deutlich zu definieren und auszubauen."
Reisen und vor Ort arbeiten, das war eigentlich schon immer sein Leben: 1960 begann der 1946 in Krefeld geborene Künstler eine Lehre im Hotelwesen und war anschließend jahrelang als Steward auf Seefahrten zwischen New York, der Karibik und Südamerika unterwegs. Ein romantisches Sehnsuchtsgefühl nach Ferne und Unbekanntem hat ihn seitdem nicht mehr losgelassen. 1970 begann Rohling ein Studium an der Berliner Hochschule der Künste und absolvierte es bis 1977 bei den Professoren Hödicke und Bergmann. Drei Jahre später gründete er zusammen mit Frank Dornseif, ter Hell, Elke Lixfeld, Rainer Mang und Reinhard Pods die Gruppe 1/61, die sich im Namen auf die damalige Postleitzahl eines Teiles von Berlin-Kreuzberg bezog. Über den inhaltlichen Ansatz der Gruppe schrieb Wolfgang Siano, Theoretiker und Freund der Künstler: "Erfolgte der Zusammenschluss der Gruppe durchaus in der pragmatischen Absicht eines Galerieselbsthilfeunternehmens, so waren die beteiligten Künstler doch ebenso um weitestgehende inhaltliche Übereinstimmung bemüht. Das mag angesichts ihrer offenkundigen Unterschiede überraschen, und im Vergleich mit den bei Künstlergruppen gewohnten Merkmalen wie formale Kontinuität, ideele Programmatik oder auf Aktionen bezogene Übereinkunft fällt zunächst nur auf, dass sie sich alle mit den klassischen Gestaltungsweisen der Malerei bzw. Plastik auseinandersetzen. Dennoch ist darüber hinaus ein objektiver, die Differenzen mit einbeziehender Zusammenhang erkennbar, der am ehesten als gemeinsame orts- und zeitspezifische Bewusstseinslage zu charakterisieren ist. Ihren Hintergrund bilden einerseits die vielfältigen alternativen und emanzipativen Bestrebungen der Berliner Großstadtkultur sowie andererseits das allgemeine politische und kulturelle Rollback des letzten Jahrzehnts."1
Die Produktion von Kunst war für Gerd Rohling schon damals, wie er sagt, eine Fortsetzung vom Spielen auf der Straße, und mit "Kunst machen" verbindet er seitdem die Vorstellung, sich "in Bildern zu bewegen und in Bildern zu denken". In seiner Biografie scheint es von daher nur eine relative Veränderung zu sein, wenn er die Trümmergrundstücke und Spielplätze seiner Kindheit gegen die christliche Seefahrt eintauschte und diese später für ein Leben als "freier Künstler" hergab. Aber die Veränderung handelt auch vom Entwicklungs- und Wachstumsprozess des Künstlers, dessen Kunstbegriff sich eher an eigenen Beobachtungen und Visionen entwickelt hat, denn an Theorien, Debatten und Diskursen. Rohling gehört zu jenen Künstlern, die ihren Augen und Gefühlen trauen und ihren Visionen und Sehnsüchten nachgeben. Demnach ist er wohl eher ein romantischer Nachfolger Joseph Conrads, denn ein kühl berechnender Artist der Gegenwart. Um seine Wünsche zu verwirklichen geht er Risiken ein, plant fast immer auf eigene Faust, lässt sich eher auf eine ungewisse Situation in Accra ein, denn auf ein gemachtes Bett in Berlin. Irgendwie anachronistisch und gleichfalls aktuell, denn die größten Abenteuer sind wahrscheinlich die selbst erdachten, die beste Kunst ist jene, die keine Rücksichten kennt. Man kann Rohlings Reisetrieb auch unter dem Aspekt des Sartre'schen Kontingenzbegriffs betrachten, denn sein Da- und Dortsein geschieht aus einer inneren Notwendigkeit und entsteht aus dem Wunsch, dass die eigene Arbeit ihm einen konzentrierten und spannenden Tag bereite.
Die Arbeiten Gerd Rohlings sind zugleich real, mystisch und konkret in ihnen thematisieren sich - und dies zuweilen in einem fast zeitlosen Sinn - Fragen nach dem Gehalt und der Potenz von Kunst und Kunstwerken. So lässt er sich mit einer Arbeit wie "Wasser und Wein", an der er seit 1984 bis heute immer weiter arbeitet, auf Paul Valerys elementaren Gedanken ein, ob denn nun der Kieselstein am Strand seiner Form nach vom Menschen oder den Wellen herstamme: Auf seinen Reisen sammelte Rohling an den Stränden dieser Welt angeschwemmtes Plastikmaterial, verschmutze, verkratzte und verunstaltete Flaschen und Behältnisse, die er später neu zusammenfügte. Auratisch in Vitrinen präsentiert und in pointiertes Licht getaucht, erscheint der montierte Plastikmüll wie kostbares antikes Glas - absolut formvollendet und von magischer Ausstrahlung. Als der Sopraintendente des Neapolitaner Nationalmuseums zum erstenmal vor einer Vitrine mit dem gleißenden Plastikschrott stand, äußerte er verwundert, dass er nicht gewusst habe, welche Schätze sich denn da im Besitz der Sammlung des Museum befänden.
Teile dieser Installation wurden bisher in Neapel (1986), im Museum of Modern Art Rio Janeiro und dem Museum of Modern Art in Salvador Bahia/Brasilien ('87) gezeigt. 2001 war die Arbeit bei der 49. Biennale von Venedig zu sehen. Die komplette Sammlung von 1500 Plastikexponaten will Rohling irgendwann auf Wanderschaft schicken und sucht noch nach geeigneten Ausstellungsplätzen.
Sammeln, neu kombinieren, ergänzen, kommentieren, Situationen umdefinieren, um sie kenntlich zu machen - das sind wesentliche Teile von Rohlings Arbeitskonzept. Man kann dieses Prinzip bereits in den frühen Arbeiten entdecken: Für die 1981/82 in New York entstandene Skulptur "Klassentreffen", versammelte er dreißig desolate Kinderfahrrädchen aus Blech und Plastik, die er in stillgelegten U-Bahnschächten von Manhattan und Brooklyn gefunden hatte. Er ersetzte die fehlenden Räder, Lampen und weiteres Zubehör durch bemalte Scheiben oder Formen und verteilte die dermaßen veränderten, fahruntauglichen Spielzeuge in eine zufällig anmutende Ordnung im Raum. Mit dieser Ansammlung von trashigem Spielzeug stellte er eine Art von Lebenstheater vor, das von Verlust, Vergessen und Beschädigung handelt, wie auch von der Erbärmlichkeit des Daseins und der Liebe, die darin zu siedeln vermag.
Das fehlende Bild, der leere und noch unbestimmte Ort, der noch nicht gesagte Kommentar als Antrieb für die eigene künstlerische Tätigkeit, das ist die Domäne Rohlings: 1986 entsteht seine 32-teilige Installation "Die Ahnenreihe", die er 1990 in einer Ausstellung der Nationalgalerie im Rundbau des "Kunstforums" an der Budapesterstrasse in Berlin zeigte.2
Für Rohling stellen die "Ahnen" eine bisher nicht existente Wunschfamilie dar. Die Arbeit zeigt Profile und Kopfformen, die der Künstler aus den Seitenflächen von Plastikkanistern schnitt, mit Farben bemalte und mit Accessoires drapierte. Als Material für die Utensilien wählte er gebrauchte Gegenstände aus dem Autobereich, wie etwa Reifen, Radkappen, Plastik- und Metallteile. Rohlings "Ahnen" sind abenteuerliche Gestalten, es könnten Indianer, Bardamen, Piraten, Zuhälter oder Schamanen sein, jedenfalls Typen, die nicht der bürgerlichen Lebenswelt entspringen, sondern wohl eher der Halb- und Scheinwelt der Geschichten eines Walter Serner. Dem entsprechend sind Rohlings Geistesverwandte nicht nur bildende Künstler - wie etwa David Hammons und Alighiero e Boetti - sondern auch Literaten, zum Beispiel George Simenon, wobei ihn bei Simenon die Fähigkeit fasziniert, Geschichten zu erzählen und der Spekulation eines "Was wäre eigentlich wenn ..." zu folgen. In diesem Sinne versteht Rohling seine Arbeit als Produktion sichtbarer Stories, die neben anderen Kriterien, auch jenen unterliegen, die man im literarischen Bereich von einer spannende Geschichte, einem aufregenden Roman erfüllt sehen möchte. Auf seine Methode trifft an sich etwas Zeituntypisches zu, denn seinen Arbeiten ist es inhärent, dass es dabei viel zu sehen gibt, sie sich aber gegen eine allzu theoretische Überformung sträuben.
Romanhaft langatmig sind die Vorbereitungszeiten und Arbeitsrhythmen, denen sich der Künstler unterwirft: Bis zur ersten Ausstellung der Installation "Wasser und Wein" 1986 verstrichen immerhin sechs Jahre. Andere Werkkomplexe, wie die fiktive "Biennale di Napoli", die aus 1500 Einzelteilen besteht, wächst und wuchert noch länger und war bislang überhaupt nicht öffentlich zu sehen.
Rohlings wuchernde Produktionsmethode lässt immer wieder Arbeiten entstehen, die den Charakter von Gesamtkunstwerken annehmen. Das Happening DER SPRUNG, das der Künstler 1991 für den Flohmarkt an der Berliner Brunnenstraße plante und auch dort durchführte, gehört dazu. Die Idee zu DER SPRUNG kam ihm beim Besuch dieses großen Flohmarktes, der zu Beginn der 90er Jahre jeden Sonntag auf der Grenze zwischen Wedding und Berlin-Mitte stattfand. Nach Mauerfall und Wende war er ein Magnet für Händler aus Osteuropa, für Türken und Deutsche. Im Eingangsbereich des Marktes stand ein grüner Toiletten-Container und als Rohling sah, dass Urin aus dem Gehäuse floss, kam ihm der Gedanke: "Eigentlich fehlt oben auf dem Container nur noch ein großer Kampfhund". Er realisierte diese Vision und baute den großen Kampfhund als Skulptur aus Spanplatten, die bemalt, wie aus Stein gefertigt aussahen. Als ein heraldischer Löwe lagerte der Hund beim SPRUNG auf dem Urinoir, und auch an anderen Orten war der Kampfhund - damals noch nicht rechtsstaatlich mit Maulkorb versehen - Hauptakteur des Spektakels, zu dem der Künstler an einem sonnigen Wochenende im Mai einlud. Die gesamte Installation bestand aus zirka 20 Stationen - einem Café, Fahrplänen mit dem Aufdruck "Die Liebe kommt, die Liebe geht", einer großen Plastik aus Bierkisten, einer riesigen Holzpalette plus Fahnenmast und einer roten Pause-Fahne, einem Denkmal für "Lügen und Betrügen", dem Modell eines Video-Doms und immer wieder erschien der Kampfhund, der wie in einem Bilderwitz an einer Leiter stehend nach einer Wurst schnappt oder in gestrecktem Sprung durch einen Betonring hechtet. Die Aktion stellte den Flohmarkt aus, stellte ihn wie ein Kunstwerk auf einen Sockel und theatralisierte ihn in seiner Einmaligkeit. Rohlings Skulpturen wirkten als Interventionen, die dem Ganzen einen Spiegel vorhielten. Absicht des Künstlers war es, die Situation zu kultivieren, das Geschehen mittels leicht verständlicher Bilder zu maskieren und gleichzeitig zu demaskieren. Die Aktion integrierte die Besucher unmittelbar, bezog sich auf sie und machte sie zu Akteuren einer fast opernhaften Handlung. Rohling gelingt es mit solchen Formen der Überhöhung die geläufigen Routinen von Ort und Zeit zu unterbrechen.
Michel Foucault hat in seinem Essay "Andere Räume"3 zur Geschichte des Ortes festgestellt, dass der Ortsbegriff - im Unterschied zum Zeitbegriff, der seit dem 19. Jahrhundert säkularisiert wurde - erst in letzter Zeit seiner spezifischen Rituale entblößt wird. Immer noch unterscheiden wir behäbig zwischen privaten und öffentlichen Orten, Produktions- und Besinnungsorten und verhalten uns je nach dem, wo wir uns befinden, sozial ortstypisch. Rohling attackiert mit seinen Arbeiten die kaum befragten Eigenschaften von Orten und konfrontiert konkrete Situationen und Menschen mit ästhetischen Implantaten, verändert kurzzeitig die Eigenschaften des Ortes und fordert zu Reaktionen heraus.
Sein Konzept beruht auch darauf, Transfers und Transformationen herzustellen, die formal präzise und inhaltlich phantastisch sind. Zu der 1993/94 entstandenen Arbeit "Back to Bombay" wurde er durch die Katalogabbildung einer indischen Schachfigur inspiriert. Eigentlich, so sein Gedanke, gehört dieser Springer aus dem 15. Jahrhundert dahin, wo er ursprünglich herkommt - nach Bombay in Indien! Und so schuf er eine komplette Story um die Reiterfigur, die er als Skulptur in der Größe von 1,50 Metern nachbaute, deren Schwert, Schild, Speer und Ring er in Vitrinen präsentierte und in den Räumen der Berliner Dependance von Christie's reisefertig präsentierte. Die Figur samt ihrer Waffen und ihres Schmuckes soll irgendwann auch in eigens dafür gebauten Holzkisten nach Bombay verfrachtet werden und dort ausgestellt werden. Im Jahr 2000 war "Back to Bombay" bei der Ausstellung "ein/räumen - Arbeiten im Museum" in der Hamburger Kunsthalle wiederzusehen. Dem Begriff des Neuen, Modernen und Aktuellen stellt Rohling die Vorstellung von Zeitlosem, die Zeiten Übergreifendem entgegen. Ein Ziel seines Tuns ist die Produktion und Präsentation von Schönheit, die aus Einfachheit und Präzision entstehen kann. Im Sinne der Popkultur kann dabei fast alles zum Material der Kunst werden. Für seine Installationen verwendet er gerne Fundstücke, baut seine Objekte aber auch aus Spanplatten und Plastikmaterial. Ein immer wieder verwendeter Gegenstand ist die Plastiktonne, so wie man sie im industriellen Bereich für Transporte oder zum Verwahren von Flüssigkeiten verwendet. Dieser Allerweltsgegenstand wird von Rohling häufig zitiert und poetisiert. An der Tonne lässt sich in nuce Rohlings Kunstanspruch illustrieren, denn das Behältnis, dessen Anblick einen leicht skeptisch stimmen kann ("Welches Gift ist da schon wieder drin?"), wird von ihm zum Bühnenprospekt, zum Fernrohr oder Sternenhimmel umgedeutet. Gerade die wörtlich zu nehmende Offenheit der Tonne reizt den Künstler und ermöglicht es ihm, daran eine Vielzahl von Themen, Sehweisen oder Auswegen zu exemplifizieren.
Bei seiner Ausstellung "Drei Affen erstochen / eine Geschichte aus dem vorigen Jahrhundert", die im Jahr 2000 in der Berliner Galerie Rainer Borgemeister stattfand, waren Plastiktonnen in verschiedenen Formen und Funktionen mit von der Partie.4 Die Idee zu dieser Arbeit kam Rohling, als er in der BZ die fette Titelzeile "Drei Affen erstochen" las. "Endlich sind sie tot!" habe er damals gedacht und natürlich die drei chinesischen Affen gemeint, die nichts sehen, sagen und hören, und damit als Sinnbild für Ignoranz stehen. Das Affen-Massaker hatte sich tatsächlich 1999 in einer Winternacht im Berliner Zoo abgespielt. Rohling zeigt das ganze Drama aus der Sicht des Mörders, der sich von hinten anschleicht und so schauen die BetrachterInnen in das Innere einer blauen, horizontal gelagerten Plastiktonne, direkt auf die Rückfront der drei Affen, die auf einem Felsen hocken und nichts von ihrem Schicksal ahnen. In die Wandung der Tonne hat Rohling feine Löcher gestochen, sodass das eintretende Licht wie das Leuchten von Sternen und Mond wirkt. Der Illusionscharakter ist bei dieser Szene beabsichtigt, wie auch die Darlegung und das Vorzeigen der einfachen Mittel, die zu seiner Herstellung benötigt wurden. Weitere schwarze Tonnen, die auf 3 Meter hoch getürmt standen, bildeten mit Einschnitten für Augen und den wie beim "Schrei" von Munch aufgerissenen Mund eine Art von Affendenkmal und standen in Beziehung zu den tiefschwarz LKW-Reifen, die von der Decke hingen. Die Galerie war plötzlich zu einem ganz speziellen Affenkäfig geworden, der Mord an den Tieren zu einem Synonym für das Risiko und die Gefährdung, die mit jedem Leben einhergeht. Doch besaß diese Ausstellung ebenfalls humorvolle Aspekte, so etwa, wenn Gerd Rohling in Vitrinen das große, gemeine Messer und drei abgeschnittene Affenschwänze aus Holz - geschwungen wie Bischofsstäbe - als Beweismaterial auf rotem Filz präsentierte oder die pechschwarzen Hoden der Tiere zusammen mit Mickey Spilanes Kriminalroman "Die tragische Nacht" ausstellte, der auch die drei Affen auf dem Titel zeigt.
Im Sinne der Foucault'schen Unterscheidung zwischen utopischem und heterotopischen Raum, eruiert Rohling die Heterotopie und Heterochronie im Vorhandenen, er erfindet neue Formen von Raum und Zwischenraum sowie Rituale, um diese Räume zu begreifen.
Foucault charakterisiert und systematisiert den heterotopischen Raum anhand von sechs Eigenschaften oder Zuweisungen, die hier nicht alle referiert werden können. Auf die folgenden Zusammenhänge zwischen Foucaults Analyse und der künstlerischen Praxis Gerd Rohlings soll jedoch hingewiesen werden: heterotopische Räume - und dazu zählt Foucault unter anderem Museen, Gärten, Jahrmärkte, Friedhöfe wie auch den Körper - besitzen gesellschaftliche Funktionen und unterliegen dabei einer ständigen Neudefinition und Verwandlung. Einleuchtend beschreibt er dies am Beispiel des Friedhofes, der zuerst in der Mitte der Gemeinschaft der Lebenden seinen Platz hatte und im 19. und 20. Jahrhundert an den Stadtrand verlegt wurde. Auch die Rituale der Bestattung haben sich grundlegend verändert. Je weniger ein kollektiver Glaube an die Unsterblichkeit der Seele existiert, um so mehr Wert wird auf individuellen Bestattungsriten gelegt: Der Tod wird ausgelagert, der Tote wird als Einzelwesen in seinen eigenen Sarg gelegt. "Heterotopien", so Foucault, "sind häufig an Zeitschnitte gebunden, d. h. an etwas, was man symmetrischerweise Heterochronien nennen könnte. Die Heterotopie erreicht ihr volles Funktionieren, wenn die Menschen mit ihrer herkömmlichen Zeit brechen."5
Dieses Eindringen in den Raum und das Brechen von Zeit vollzieht Rohling als individuellen künstlerischen Akt, der dann aber kurzfristig auch kollektiv funktioniert. Beim SPRUNG führte er eine Art von Kampfhund-Ritual auf dem Flohmarkt ein, bei der Aktion "1. Biennale Liverpool" (1990 in Berlin begonnen, 1999 in Liverpool ausgestellt) konfrontierte er eine britische Industriestadt mit einem Kulturereignis, das zumindest früher mit dem Begriff von Exklusivität in Verbindung gebracht wurde. Bei "Back to Bombay" oder "Wasser und Wein" synchronisierte er Gegenstände aus Vergangenheit und Gegenwart: eine historische Schachfigur wird im Sinne der Rückgabe von unberechtigt entwendetem Kulturgut nach hause geschickt, Gläser, die alt und edel aussehen, sind tatsächlich aus wertlosem, neuen Material hergestellt.
Heterotopisches Agieren und die Infiltration von Zeitbrüchen findet man zwar schon im Frühwerk des Künstlers, seit zirka 1990 werden sie zum zentralen Bestandteil seiner Arbeit, so etwa bei der Aktion CUP 66, die Rohling 2001 im Nationalmuseum von Accra und an anderen Orten der ghanaischen Hauptstadt durchführte: Hauptobjekt war dabei ein Fußballpokal, den Rohling für das gleichnamige Turnier stiftete. Gewidmet war er der Spielleidenschaft der Kinder und Jugendlichen. Charles Akonnor, Fußballprofi in Wolfsburg und Kapitän des Nationalteams von Ghana, wirkte beim CUP 66 als Pate mit und sorgte dafür, dass die Aktion auch in Deutschland wahrgenommen wurde. Vorher hatte Rohling schon Spiele um den CUP 66 in Neapel organisiert und wird den Pokal demnächst auch an einer deutschen Schule ausrichten.6
Accra war ebenfalls Schauplatz der Aktion "Only for you". Als die nördliche Halbkugel im Sommer 2000 eine totale Sonnenfinsternis erlebte und diverse Tageszeitungen stolz über ihre Eclypse berichteten, blieb Ghana davon unberührt. Rohling nahm dies zum Anlass und brachte mit "Only for You" die Rituale um eine Sonnenfinsternis nach Accra, verteilte auf der Straße schwarze Scheiben und gab den Menschen spielerisch die Möglichkeit an einer Sonnenfinsternis teilzuhaben. Mit "Only for You" hatte dank Rohlings Kunstaktion endlich auch Ghana seine Sonnenfinsternis!
Ähnlich ist die Herangehensweise bei der groß angelegten Fotoserie "Klimatausch", mit der Rohling vor zwei Jahren in New York begonnen hat und an der er beständig weiter arbeitet. Einen direkten Bezug auf seine Berliner Wohnsituation im Wedding, wo viele Türken leben, nahm Rohling mit seinem Beitrag für die Biennale Venedig 1990, als er kurz nach Mauerfall und Wende anstatt einer deutschen die türkische Flagge im Bild vorstellte, und sie dabei Jasper Johns "Flaggs" nachempfunden, dreifach verschachtelt herstellte.
Die Methode heterotopischer und heterochronischer Einmischung umreißt der Künstler mit dem Begriff eines sich "im Bild bewegen". Die Welt besteht demnach aus Bildern, jede Situation stellt ein Bild dar, in das man sich - und dies ist fast schon wörtlich zu nehmen - einmischen kann. Vermeintlich ist dies ein simpler Gedanke, der aber, so man ihn ernst nimmt, weitreichende Folgen hat, denn mit ihm erscheint Wirklichkeit nicht länger als gegeben, sondern als zu erfindende und zu verändernde Struktur, deren Wert oder Intensität durch eigenes Handeln definiert ist.
"Im Bild zu sein" ist kunsthistorisch betrachtet ein Motiv, das im späten 13. Jahrhundert und mit der Idee der imitatio pietatis auftaucht, als sich adlige Damen in ihren Gebetbüchern als Marienfiguren konterfeien ließen. In der Renaissance wird bei Albrecht Dürer aus der imitatio pietatis eine imitatio christi. Mit Dürers Selbstdarstellung als Gottessohn im "Münchener Selbstporträt" von 1500 beginnt die bildnerische Konstruktion des Individuellen nördlich der Alpen. Bis auf ein Intermezzo in der Romantik scheint das Motiv des "im Bilde Seins" dann zu verschwinden, um in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhundert verallgemeinert und in diversen Varianten neuerlich aufzutauchen, etwa in den Aktionen, Environments und Performances von Günther Brus, Wolf Vostell und Marina Abramovic oder in Spiegelarbeiten, zum Beispiel bei Rafael Conogar und Gerhard Richter - um nur diese Namen zu nennen: Künstler und Betrachter sind nun wie selbstverständlich im Bild, sie bedingen das Bild. Bei Rohling müsste man von daher hinzufügen, dass er sich und die anderen nicht nur ins Bild setzt, sondern vice versa Welt und Wirklichkeit als Synonym für das Bild verwendet. Seine Methode setzt dabei keineswegs auf die Exotik des Fremden und Außergewöhnlichen, auch lässt er sich bewusst nicht im Sinne eines populären "Multi-Kulti-Gedankens" auf die letztlich unverstehbaren Dimensionen anderer Kulturen ein; vielmehr kommt er als Außenseiter oder Seiteneinsteiger mit einer fixen Idee an einen speziellen Ort, um seine Gedanken für kurze Zeit darzustellen und um diesen Ort dann wieder zu verlassen. Seine "Einmischung" ist nicht darauf angelegt, Orte nachhaltig zu verändern oder sich Fremdes anzueignen. Rohling spricht in diesem Zusammenhang von der Welt als einem Haus, in dem die Länder die Zimmer seien, auf die er neugierig ist. Wie bei der Seefahrt liege der Reiz für ihn in der Selbstverständlichkeit überall zuhause zu sein, und so sagt er: "Wenn ich verreise, fahre ich nach Hause!" Wichtig ist ihm das Unwahrscheinliche und die Überraschung im Alltag der Menschen, und so empfindet er seine künstliche Sonnenfinsternis wie ein Gastgeschenk für das Land, das er besuchte.
Gerd Rohling hütet sich vor dem Versuch die Alltagsbilder seiner Gastländer zu kopieren oder gar zu illustrieren. Wichtig sind ihm Szenen und Bildwechsel, die Suche nach Möglichkeiten eigene neue Bilder an fremden Orten zu entwickeln, um sie dort zu implantieren oder auch in Deutschland auszustellen. Er ist nicht daran interessiert eine fremde Aura zu importieren, profitiert aber von den Energien, der von ihm ausgesuchten, teilweise mithergestellten Situationen und schafft es mit der daraus resultierenden Kraft, seine Bildgeschichten aufzuladen. Dergestalt erzeugt Rohling mit seinen Installationen emotionale Felder und kurzfristige, bislang unbekannte Rituale, die sich zwar inhaltlich deutlich von dem unterscheiden, was im religiösen Zusammenhang stattfindet - etwa beim Marien-Kult. Wenn er aber sagt "Ich glaube an das Gute im Bild", so zeigt sich darin - ironisch gewendet - seine positive Nähe zu einer Bilderfreundlichkeit, die in unserem Kulturkreis eindeutig dem katholischen und nicht dem protestantischen Glauben zuzurechnen ist.
Bei Foucault, der in seinem Essay "Andere Räume" die Künste als heterotopische Potentiale ausspart, ist das Schiff der eigentliche Ort des Lebens: "Ein Schiff ist ein schaukelndes Stück Raum ..., ein Ort ohne Ort, der aus sich selber lebt, der in sich geschlossen ist und gleichzeitig dem Unendlichen des Meeres ausgeliefert ist", und fährt dann fort: "Das Schiff, das ist die Heterotopie schlechthin. In den Zivilisationen ohne Schiff versiegen die Träume, die Spionage ersetzt das Abenteuer und die Polizei die Freibeuter".7
Die Schifffahrt war - wie bereits erwähnt - das frühere Metier des Künstlers und Hafenstädte sind für ihn Orte von besonderer Anziehungskraft. Der Gedanke, Biennalen für Liverpool, Neapel und auch Bombay zu entwerfen, folgt seiner Vorliebe für große Hafenstädte, die anders als das romantisch verklärte Venedig Meeresluft atmen und in voller Aktion sind. Ein besonderer Ort ist für ihn auch das Fußballstadion, und so hat Rohling in und mit den Arenen von Rio, Neapel und Accra gearbeitet. Dort nahm er Sounds auf und fotografierte vor gewaltiger Kulisse eigene Skulpturen, die das Spielergebnis prognostizieren: 4:1 - und das natürlich für Napoli!
In Rohlings Werk finden sich immer wieder Referenzen an Orte und ihre Magie, wie aber auch die Vorstellung von Selbstreferenz. Für die Berliner "Kunstwerke e.V." entwickelte er 1996 die Arbeit "Steht drauf - ist drin", die aus einer Vielzahl von Plakaten bestand, die der Künstler in Berlin-Mitte an Wände klebte. Die Pfeile auf den Plakaten wiesen zum Ausstellungsort. Dort traf man dann genau auf das Objekt, das schon auf den Aufklebern zu sehen war - eine Holzkiste, auf die in schwarzer Farbe das Symbol eines Glases gedruckt war, wobei das Glassymbol außerdem als flache, schwarze Holzskulptur in der Kiste stand.
Auch seine 1992 entwickelte Arbeit "Berühmt-Berüchtigt" besitzt diesen Aspekt, wird doch dabei die eigene Künstlerbiographie ironisch mythisiert, indem der Künstler Referenz auf das Kunstsystem nimmt. Rohling montierte für "Berühmt-Berüchtigt" Abbildungen eigener Arbeiten auf die Titelseiten von Zeitschriften wie KUNSTFORUM International, FlashArt, art, Noema oder ARTFORUM.
Kunst im Sinne ihrer heutigen Systematik ist für Rohling eine ganz besondere Chimäre. In seiner Existenz - wie eigentlich in jeder Künstlerexistenz - kreuzen sich Ansprüche offizieller und persönlicher Herkunft. Im Fadenkreuz liegt die Arbeit, im Hintergrund stürzen Welten zusammen. Das Leben ist radikal, man lebt im Ernstfall, Grenzen werden berührt und verschoben. Das Eigene zu kennen, um das Andere zu behaupten, ist dabei überlebenswichtig. Ruhm tröstet dabei - kurzfristig. "Berühmt-Berüchtigt" stellt die Parabel vom Künstler unter neuen Gesichtspunkten dar. Rohlings Neufassung von "Künstlers Erdenwallen" heißt, sich in Bewegung zu setzen, Kommunikation über starke Bilder zu fordern, um sich dann aufs Neue in Bewegung zu setzen.
Anmerkungen:
1.) Wolfgang Siano in: 1/61, Katalog, Berlin 1980, ohne Seitenangabe
2.) Die Ausstellung wurde von Dr. Britta Schmitz kuratiert.
3.) vgl. dazu Michel Foucault: Andere Räume / übersetzt von Walter Seitter, in: Aisthesis - Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik, Leipzig 1990, S. 37 f.
4.) Abb. siehe KF Band 150, S. 362 f.
5.) M. Foucault, ebd., S. 43
6.) Der Pokal erhielt seinen Namen aufgrund der Summe der Rückennummern der Spieler. Addiert man diese von 1 bis 11 ergibt sich Zahl 66
7.) M. Foucault, ebd. S. 46