von Peter Funken, 2009
An einem dieser grausig grauen Wintertage in Berlin steht Moll Mogrengrau an einer Imbissbude am Alexanderplatz. Lustlos auf der Fleischmasse einer Wurst kauend, sinniert er über sein trübes Dasein: "Zügle deine Freude, es ist immer ein "Aber" dabei!" Tiefe Falten zerfurchen seine Stirn, die Welt ist böse, das Leben hart und Berlin längst nicht so sexy, wie der Regierende OB Wowereit es gerne hätte.
Moll Morgengrau, ist eine Kunstfigur. Erfunden hat ihn die dänische Künstlergruppe surrend, die seit einiger Zeit in Berlin lebt. Moll Morgengrau - der Name ist Programm - ist Künstler, er ist einer von ganz vielen, die in der boomenden Kunstmetropole ihr Glück suchen. 1960 in Kassel geboren, hat er dort studiert und wurde Lehrer. Diese Berufswahl war ein Reinfall, das war allen Betroffenen schon sehr bald klar, und so ging Morgengrau nach Berlin, um sich selbst zu verwirklichen, um berühmt zu werden, um viel Geld zu machen - mit seiner Kunst. Dazu braucht man eine gute Galerie, große Ausstellungen, prominente Teilnahmen an internationalen Messen, dicke Kataloge, Interviews und natürlich Verkäufe, Verkäufe, Verkäufe ... Und jetzt steht er an der Wurstbude, und wie weiter? Das Interesse an Moll Morgengraus Installationskunst ist euphemistisch gesprochen gering, immer steht er in der zweiten Reihe. Die wichtigen Kuratoren kennt er nicht, er grüßt sie, sie grüßen zurück - aus Höflichkeit. Kein Galerist reißt sich um ihn, sie retournieren seine Bewerbungen gekonnt mit kurzen, floskelhaften Absageschreiben. Einmal sieht es etwas besser für ihn aus, doch auch während der Ferienreise nach Kuba verläßt ihn der Missmut und die Depression nicht. Bei der großen Fiesta steht er zwischen braunen Inselschönheiten und denkt doch nur an die von ihm getrennte, noch immer geliebte Frau, die sich vor seinem Umzug nach Berlin von ihm scheiden ließ. Moll Morgengrau wohnt am Kollwitz-Platz, im Szenekiez Prenzlauerberg. Als Single nerven ihn dort die vielen lärmenden Kinder und deren übermütterliche Mütter.
Moll Morgengrau ist eine Fiktion, aber eine Fiktion, die wahr ist. Künstler und Künstlerinnen wie ihn gibt es tatsächlich, in Berlin sogar en masse. Fragt man, schaut man sich um, so entdeckt man das Kunstprodukt von surrend als Typ der Gegenwart überall dort, wo man ihn vermutet - auf Vernissagen, in Bars und Clubs - dort schon leicht angesäuselt - in den langen Bewerbungslisten für Stipendien und Auslandsaufenthalte, bei Antragsstellungen und Ausschreibungen - und fast immer geht Moll Morgengrau leer aus. Obwohl die Depression aus ihm spricht, ist er nicht völlig verzweifelt. Er ist kein typischer "Looser", er macht weiter, er gibt noch nicht auf, er geht lieber nicht zum Arbeitsamt, er beantragt noch nicht Hartz IV. Das wäre unter seiner Würde, und er weiß, dass der Erfolg in der Kunst manchmal über Nacht kommt, manchmal aber nie.
"The art world is a hard world" sagt Jan Egesborg von surrend. Mit der Finanz- und Wirtschaftskrise, in der wir derzeit "stecken" und deren Ausmaße und Auswirkungen womöglich weit größer sind, als man uns bislang erzählt hat, ist Moll Morgengrau genauso wenig vertraut, wie irgendein anderer. Aber ihn, der soviel riskiert und nichts zurückgelegt hat, trifft sie besonders hart, denn nun zeigt sich sehr deutlich, dass die Kunst, trotz gegenteiliger Behauptungen, nach wie vor ein Luxusprodukt ist für das nach wie vor gilt - Kunst gucken ist schön, Kunst bezahlen ist bitter.
Moll Morgengrau, diesem unglücklichen Helden der Gegenwart, widmet die "Galerie Verrückt" eine Einzelausstellung. Es ist Moll Morgengraus erste große Show in Berlin. Leider ist die Galerie pleite, sie wird ihre Arbeit unmittelbar nach der Eröffnung einstellen. Genau wie für Moll Morgengrau, so "reicht" es auch für diese Galerie nicht. In Berlin gibt es zirka 400 Galerien und Projekträume. Es könnte sein, dass mit der Wirtschaftskrise für etliche schon bald das "aus" kommt, denn viele Galeristen haben in den letzten Jahren hoch gepokert, man musste etwas riskieren, man hat große, kostspielige Flächen angemietet, man ist Verbindlichkeiten eingegangen, man will sich, man muss sich sogar an Messen beteiligen, um bekannt zu werden, um Umsätze zu machen. All dies kostet Geld, das man derweil nicht einnimmt. Man lebt eine Weile über die Verhältnisse, dann kommt die Kapitulation. Es ist wahrscheinlich, dass die Luft für so manche Galerie jetzt dünn wird, denn ähnlich wie viele Künstler, verfügt man kaum über ein Finanzpolster, um längere Durststrecken zu überbrücken.
Am 7. Februar 2009 kann man auf der Kunstmarktseite der Süddeutschen Zeitung lesen, dass Auktionen bei Christie's und Sotheby's in London besser gut gelaufen sind, als befürchtet. Man hatte gezittert und doch verkaufte sich ein Bild Gerhard Richters weit über den Erwartungen. Degas' Skulptur der kleinen Balletttänzerin brachte mehr als 13 Millionen Euro, nur eine Arbeit Lucio Fontanas aus der Spatiale-Serie floppte unterhalb von 4,4 Millionen Euro.
Trotzdem, jetzt wo es überall wackelt, zittert man auch in der Kunstwelt. Nach der "Art Basel" in Miami konnte man aus berufenen Mündern hören, wie schlecht es gegangen sei, wie verlustreich diese Messe der Superlative gelaufen wäre. Normalerweise sind solch ehrliche Aussagen von Galeristen eher verpönt, geradezu verboten, denn sie erzeugen negative Stimmung und wirken auf die Geschäftsatmosphäre wie Gift. Gerade in Berlin, so meint Jan Egesborg, sollte Ehrlichkeit an erster Stelle stehen. Die Stadt und ihre Menschen empfindet er als "honest" und "honesty" sei das Gebot der Stunde. Jetzt herrscht bei so manchem die Angst vor - eine Angst, die Moll Morgengrau schon seit längerem kennt. Er nun, lacht sich mit boshaftem Grinsen ins Fäustchen. Auf den Plakaten stellt Moll Morgengrau über die Krise sarkastisch fest: "Es lebe die Finanzkrise, nun geht es allen genauso mies wie mir" - "Die Finanzkrise ist herrlich! Nun lassen sich alle scheiden!" oder "Mehr Finanzkrise bitte! Jetzt werden alle genauso arm wie ich!"
Moll Morgengrau, die depressive Kunstfigur, passt genau in unsere Zeit. Mit Moll Morgengrau halten die Künstler von surrend dem Kunstbetrieb und seinem Markt einen Spiegel vor und bieten eine gute Projektionsfläche für alles Mögliche - etwa für depressive Verstimmungen, für kritische Einwände, die gegen Erfolg oder Kapitalismus sprechen, denn in Moll Morgengrau steckt auch etwas von dem, was man den Deutschen generell gerne unterstellt - der Hang zum fatalistischen Rechthaben, dieses "Das-geht-schief / Ich-habe-es-schon-immer-gewusst", eine depressive Mentalität und Miesepetrigkeit.
Moll Morgengrau scheint die gegenwärtige Stimmung, das Gefühl von erwarteter Krise und Depression so stark wiederzuspiegeln, dass manche ihn für eine reale Person halten und ihm sogar e-mails schicken. Dies nun aber ist komisch und lässt auf vorhandenen Humor schließen. Mit Moll Morgengrau geht es dann so ähnlich, wie mit Franz Biberkopf, dem Anti-Helden in Alfred Döblins 1929 erschienen Roman "Berlin Alexanderplatz": von einem Journalisten gefragt, meinte Döblin, er könne dessen Frage nicht beantworten, am besten sei es, der Journalist rufe Franz Biberkopf einmal an.
Moll Morgengrau existiert in guter Gesellschaft. Die Reihe der fiktionalen Künstler- und Kunstfiguren ist lang und zieht sich durch die Geschichte. Durch eine erfundene Person lässt sich ironischer, rigoroser und distanzierter sprechen, als würde man als Künstler wie mit geöffneter Bluse ins Schussfeld treten. Mit Stellvertreterfiguren wurde im jeweils zeitgenössischen Kontext immer wieder das vor allem prekäre Verhältnis zwischen Künstler und Gesellschaft abgehandelt. Zwei Beispiele:
1833 hat der junge Adolph Menzel frei nach Johan Wolfgang Goethes Drama "Künstlers Erdenwallen" eine Folge von 11 Darstellungen herausgebracht, die die Künstlerexistenz unter folgenden Themen, so Menzel, behandelt und bis heute treffend charakterisiert: "1. Flucht aus dem heimathlichen Zwange", "2. Künstlerische Laufbahn, Armuth, Hindernisse der Celebrität und des Aufstrebens", "3. Hochfliegende Pläne für die Zukunft", "4. Getäuschte Hoffnungen, Lebenswiderwärtigkeiten" sowie "Verunglimpftes Verdienst, gegenüber erndtet unverschämte Nachahmerei den Lohn der Erfindung", wie auch "Vergebliches Mühen und Placken des Künstlers für nichts, kaufmännischer Druck". Dem von Goethe entworfenen Idealbild, setzte Menzel eine bitter-realistische Parodie der künstlerischen Krisenexistenz entgegen. 1884 schrieb und zeichnete Wilhelm Busch die illustrierte Geschichte "Maler Kleksel". Bissig, ironisch skizziert er den Werdegang von Kuno Kleksel - seine ästhetischen Anfangsschwierigkeiten, die großen Ambitionen, Geldnot und den Kampf mit der Kritik, die Herstellung von Kleksels Meisterwerk "Wie Bertold Schwarz vor zwei Sekunden des Pulvers große Kraft erfunden", dann noch das Künstlerpech in der Liebe und ein versöhnliches biederes Happyend - denn der Künstler wird zum Wirt im Stammlokal.
surrends "Moll Morgengrau" lässt sich durchaus in der Nachfolge dieser Protagonisten wahrnehmen. Dass surend ihn in einer Reihe von Plakaten vorstellt, entspricht dem Gedanken, auf den man auch bei Menzels Lithografien und Buschs Zeichnungen verfällt - dass im Medium sprechender, erzählender Grafik die besten Möglichkeiten bestehen, die Situation des Künstlers chronologisch und zudem wie bei Busch, mit konkreten Beispielen und Abschweifungen zu beschreiben - ihn also von verschiedenen Seiten zu beleuchten, um unterschiedliche Perspektiven auf die Hauptperson einzuführen. Zudem lassen sich grafische Arbeiten breiter verteilen, sie erreichen eine größere Öffentlichkeit als ein gemaltes Bild. Die Herstellung von Öffentlichkeit, die Vermittlung von Information, das Auslösen von Debatten sind Ziele von surrends Kunstansatz. Erzählte Menzel noch das gesamte Künstlerleben bis hin zum nicht mehr erlebten Ruhm, so beschließt Wilhelm Busch die Vita Maler Kleksels mit dessen Aufgabe des Künstlerberufs und dem Beginn eines neuen Lebensabschnitts im Mittelmaß. Auch Moll Morgengrau hat ein Vorleben, doch vor allem lebt er heute - er ist ein Mann in der Krise, einer, der im Gegenwind steht. Er erlebt die Verdämmerung der bürgerlichen Gesellschaft. Wie seine Vorgänger ist er Protagonist in einem aktuellen Sittengemälde. Er ist Teil der Gesellschaft, die er kommentiert, die er erleidet, die ihn erleidet. In manchem ähnelt er sogar der von Martin Kippenberger forcierten Dramatisierung und Selbstinszinierung als Künstler - aber Moll Morgengrau wirkt dabei merkwürdig einsilbig, so wie einer, der hart auf den Boden aufschlug und darüber fast sprachlos wurde. Zur pompösen oder spielerischen Selbstinszinierung langt es bei Moll Morgengrau derzeit nicht mehr. Immerhin bringt er einen zum Lachen und Nachdenken. Und wenn Moll Morgengrau auch über die Krise deprimiert ist, so ist das auch immer wieder komisch - wie komisch es wirklich ist und wird, das weiß ich heute noch nicht.