von Manfred Schneckenburger
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Den Säuglingen gab er einen weichen Ball. |
Eine Skulptur von Norman Junge, auf ihr Prinzip gebracht? Nein, das Gedicht heißt „Fröbel", und der Autor Dieter Hoffmann hat vermutlich nie eine Plastik des Kölner Bildhauers, Zeichners, Illustrators gesehen, so wenig wie diesem der „Spiel- und Beschäftigungskasten" vom Begründer des deutschen Exportschlagers Kindergarten bekannt war2. Dennoch ist ein Zusammenhang weder Willkür noch reiner Zufall. Es lohnt, ein paar lockere Fäden aufzugreifen und zu verknoten - um sie dann gleich wieder zu lösen. Denn letztlich sind Junges Skulpturen primär und unmittelbar zu sich selbst.
Ein Brückenschlag zu Kinderspielzeug liegt jedoch auf der Hand. Der Reiz dieser Skulpturen besteht ja gerade in ihrer kindlichen Bastelei und Mechanik. Wie Spielsachen stehen, wackeln, schaukeln, rollen und stoppen sie. Dabei reflektiert das „große Kind" Norman sehr genau, was er künstlerisch will. Junge verdichtet, vereinfacht, verknappt zwischen elementarem Klötzchengefüge und unbefangener Assoziation. Die Freude am Effekt, die Verlockung, am Rand harmloser Katastrophen zu bauen, bleibt die gehobenste Form in der Heiterkeit.
Diese eine Linie Kinderspielzeug reicht bis über die Mitte des 19ten Jahrhunderts zurück. Damals konzipierte der Pestalozzi-Schüler Friedrich Wilhelm Fröbel mit seiner Spieltheorie eines der folgenreichsten kunst-pädagogischen Modelle, mit Auswirkungen bis zum Bauhaus. Während des Studiums in Kassel kommt Junge durch seinen Professor Jupp Ernst mit späten Ausläufern der Bauhauslehre in Kontakt. Dazu gehört das Verständnis der Elementarform als kindliches Schema, eine Sicht, die schon früh die Neigung des hochprofessionellen Zeichners zum rhythmischen Temperament der Strichführung kontert. Auch die Nähe von Kunst und Kinderkunst konnte Junge (noch ein halbes Jahrhundert später!) vom Bauhaus-Meister Paul Klee bestätigt sehen, der wie kein anderer Züge der Kinderzeichnung nobilitiert hat.
Nehmen wir das Spielzeughafte als einen zentralen Nerv von Junges Skulpturen, so ergeben sich in der Tat Verbindungen mit Klee und dessen Verhältnis zur Kinderkunst. Gewiss, niemand würde Junge in die dünne Gipfelluft des Klassikers katapultieren, doch wenn es in der Skulptur eine Klee vergleichbare Annäherung an Kindheitsstufen gibt, dann bei ihm. Wie Klees Zeichnungen aus den Jahren 1912, 1916, 1922 so berührt sich das gesamte plastische Werk von Junge eng mit kindlicher Ursprünglichkeit und Fantasie. Obgleich das Verhältnis des Bauhaus-Meisters zur Kinderkunst wandelbar und durchaus ambivalent sein kann3, finden sich doch sogar einzelne konkrete Berührungspunkte: Junges menschliche Konfigurationen verspannen ihr Gliedergerüst ähnlich wie Klees diagonal verbundene Strichmännchen von 1912 („Die Gewärtigen"). Auch Formvereinfachung, um eine Komposition überschaubar zu machen, jene „Reduktion als letzte professionelle Erkenntnis"4, mit der Klee dem Vorwurf des Infantilismus widerspricht, verbinden den Bildhauer mit dem Formdenker in Weimar. Etliche von Klees Argumenten in dieser Auseinandersetzung lassen sich auch auf Junge anwenden. Allerdings ist das kulturkritische Pathos eines Neuanfangs von den Ursprüngen her längst verklungen. Den „inneren Klang" der Kinderkunst sehen wir heute nüchterner als Klee und Kandinsky vor dem ersten Weltkrieg.
Steht der Plastiker Junge zu Unrecht im Schatten des sehr erfolgreichen Illustrators? Hat das skulpturale Bilderbuch-Vokabular der Igel, Roller fahrenden Hasen, Flügel schlagenden Hennen, gekippten Halbkugeln und schwankenden Unterbauten, hat das Prinzip Hampelmann den Blick auf die Qualitäten des Plastikers behindert? Eines tritt deutlich hervor: Diese Skulpturen sind kein hobbyistischer Nebenweg. Wenngleich Junge sich nur phasenweise, etwa zu Beginn der 80er Jahre, der dritten Dimension zuwendet - die Intensität seiner Arbeit wird dadurch eher konzentriert und gestärkt. Für die technischen Finessen fand er Stephan Schmitz, eine kongeniale Hand. Junges konzeptuell eigener Weg führt mittig durch die Problemfelder der aktuellen Skulptur. Stichworte: Ponderation, Gewicht, Druck, Zug, Auflager, Kontergewicht, aber auch, in Richtung Kinetik: Labilität, Angelpunkt, Drehgelenk. Die Physikalität der Plastik und ihr Umschlag in Ästhetik wurden entdeckt. Junge erweist sich dabei als ein höchst zeitgenössischer Künstler, der, auch jenseits der Fröbel-Linie, Grundfragen des Plastischen seit den späten 60er Jahren umspielt. 1985 fasste Uwe Rüth im renommierten Skulpturenmuseum Glaskasten (Marl) diese Tendenzen in einer Ausstellung „Labile Skulpturen" zusammen. Beim Blättern im Katalog fallen einzelne Arbeiten von Alfred Karner, Jan Meyer-Rogge, Wolfgang Nestler, Günther Thorn und anderen ins Auge: abstrakte Antworten auf Formprobleme, die, mit doppelbödiger Ironie, unbändigem Spieltrieb, Brüchen ins menschliche Gegenständliche, auch Junge umtreiben. In einem Film bewegt der Künstler sich vehement zwischen seinen Skulpturen, versetzt Fußtritte, versucht umzuwerfen, testet die Eisenkern bewehrte Gravitation, die immer wieder in die Ausgangslage zurück wippt, duckt sich unter den Turbulenzen hoch fahrender Stangenarme - ein Anarchist unter den Bildhauern, die mit physikalischen Kräften umgehen. Den weißen Haarschopf zu Berge stehend, agiert er rasant in seiner wild um sich schlagenden Skulpturen-Welt.
Wer will, kann Junge also auch auf einer vorderen Linie der 80er Jahre verorten - und hätte damit doch nur eine sehr allgemeine Zugehörigkeit markiert. Wichtiger ist, wie er sich zwischen plastischer Autonomie und der Lust an Spielsachen platziert. Wie er Widersprüche zuspitzt und daraus einen absurden Witz pointiert. Ein eisenschwerer Quader - ganz standfeste Massivität - reckt den vierkantigen Kopf zwischen viereckigen Ohren hoch, während Räder und ein dickes Abschleppseil die Mobilität eines Hundes zum Hinterherziehen suggerieren. Doch das immense Gewicht und die festgeschweißten Räder fixieren das kaum bewegliche Gefährt. Ein Aprilscherz als formstrenger Widerspruch in sich selbst? Ein Einspruch gegen die Klassifizierung als schieres Kinderzeug?
Andere Grundmuster spielen mit der Destruktion von Chaos und Zusammenbruch. Ein stählerner H-Träger, als Brücke über zwei Klötze gelegt oder an die Wand gelehnt, ist bis auf einen schmalen Steg tief angesägt. Der Kurvenschnitt wird zum Grinsen. Ein einziger letzter Knacks und der Träger wird vollends zerstört, das Grinsen aus dem Gesicht weggewischt. Rechteckige balkendicke Tore erreichen mit der kürzeren linken Stütze nicht den Boden, sondern balancieren auf einer stacheligen Spitze, die wiederum aus dem Rücken eines Spitzeis herauswächst. Ein ähnlich gekapptes schwergliedriges Tor ruht auf einem fragilen Gerüst, das jederzeit zerquetscht werden kann. Oder ein Tisch steht statt auf dem vierten Bein auf einer gekurvten Riesenwurst, die durch ihr eigenes Ungleichgewicht abzudriften und den ganzen Tisch umzureißen droht. Die kippende Wurst ist in ihrer oberen Hälfte schwarz eingestrichen und gewinnt dadurch eine gefährlich wirkende zusätzliche Asymmetrie. Ein kleiner Steg schiebt sich wie eine Nase aus ihrem Zipfel hervor. Solche Ideen tragen weiter und bringen in einer Kettenreaktion ganze Skulpturengruppen hervor. Eine weitere Version der Wurststütze ist halbiert und sitzt jetzt als massive Glocke über einem aufgedeckten Gully. Die neue Bodenhaftung verändert den plastischen Charakter fundamental. Junge liebt solche Ortswechsel zu Variationen über die gleiche Skulptur. In einer Ausstellung richtet er sie mit ihrer Nase auf eine Zeichnung aus. Aus dem hölzernen Monolithen entsteht ein neugieriger Dialogpartner.
Am häufigsten bleibt jedoch der kinetische Appell. Stelenartige Figuren auf halbkugeligen Untersätzen ohne jede Stabilität, mit schlenkernden Armen, machen ihn fast unwiderstehlich. Stangenmännchen pendeln sich immer wieder in die Senkrechte zurück. Wird der Untersatz lebhaft gekippt, schlenkern die Arme wild durcheinander. Der Trickreichtum, mit dem die Gravitation manipuliert wird, ist bemerkenswert. Aus aneinander geleimten dünnen Scheiben spiralt sich ein schlangenartiges Monster mit dem Unterleib einer Ameisenkönigin nach oben, dessen Gewichtsverteilung immer wieder in bestimmte Positionen einschwingt.
Aber auch gemächlichere Tempi kommen vor. Ein quadriges Huhn verstärkt seine Ruhe durch starre Beine, die mit dem Körper aus einem Brett geschnitten sind. Nur ein kleiner Flügel kann bewegt werden und betont so zusätzlich die massige Regungslosigkeit der Henne. Junges Menagerie ist auch sonst gut bestückt, manchmal tendiert sie zur Architektur. Klötzchen verwandeln durch einen einzigen Klappvorgang ein klobiges Vogelwesen in ein Bauwerk, mit dem Schnabel als Kirchturmspitze.
Absurde Pointen zieht Junge auch aus verschrobenen Maßstäben. Ein Hammer, dessen Stiel waagerecht über dem Boden schwebt, ragt mit der abgeschrägten Seite nach oben. Sein flaches Ende sitzt direkt am Boden auf. Hier ist ein kleines Rechteck eingeschnitten, das wie eine Türe wirkt.
Mit der Spitze darüber als Giebel wird der Hammerkopf zum Haus - das sich doch mit einem einzigen Griff wieder in die ursprüngliche Funktion als Werkzeug zurück versetzen lässt. Ein Hin und Her, bei dem sich komprimierter Bildwitz mit einem Duchampeffekt zusammendrängt. Überhaupt, die Häuser! Schmale Striche als Fenster, Dreieckskonturen als Giebel, meist mit dem übrigen Repertoire kombiniert. Überdachte Stangenfiguren schwanken auf Halbkugeln wie im Sturm. Ein Haus erhebt sich auf einem hölzernen Karrenrad und kann jederzeit auf den Kopf gedreht werden oder abstürzen. Überall prekäre Situationen, Zuspitzungen in einem potentiellen Katastrophenszenario. Eine Neigung, die auf den Kollaps des „Kartenhauses" spekuliert. Und es doch aus festem Material erbaut, ihm Sicherheiten implantiert, die letztlich die Oberhand behalten und alles ins Lot rücken. Herausforderungen an einen Spieltrieb, der nicht nur kindlich ist. Bitte anfassen! So gesehen, können Junges Skulpturen durchaus Gleichnisse des Lebens sein.
1
Dieter Hoffmann: Engel am Pflug. Gedichte. Mainz 1988.
2
Friedrich Wilhelm Fröbel (1782-1851) war ein bedeutender Pädagoge und der Begründer des Kindergartens. Sein Buch „Ein Ganzes von Spiel- und Beschäftigungskästen für Kindheit und Jugend" erschien ohne Jahr zwischen 1835 und 1845.
3
Vgl. O. K. Werckmeister: Versuche über Paul Klee. Frankfurt am Main 1982; S. 124-78.
4
Paul Klee: Tagebücher, hg. von Felix Klee, Köln 1957; S. 248, Nr. 851, 1909.
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