PATHOSFORMELN UND ENERGIESYMBOLE
ZUR EINHEIT VON DENKEN, WOLLEN UND KÖNNEN



Für die nähere Zukunft ist mit großer Wahrscheinlichkeit zu erwarten, daß leider sehr viele Menschen wieder glauben werden, der Weg aus ökonomischen und politischen Krisen läge darin, irgendwelche wissenschaftlichen, politischen oder künstlerischen Konstruktionen eines übergeordneten Ganzen unmittelbar zu verwirklichen, also einen Mythos vom Ganzen identisch in die Lebensvollzüge der Massen umzusetzen. Das heroische Dennoch-Pathos umflort bereits wieder politische, intellektuelle und künstlerische Aussagen über den Gesamtzustand der Weltgesellschaft. Das Interesse an Mythen ist sprunghaft angestiegen, ohne daß immer eindeutig darauf bestanden wird, daß solche Mythen nur hypothetische Konstruktionen sind. Jedermann scheint klar zu sein, daß wir in übergeordneten Zusammenhängen zu denken haben. Aber das Verhältnis von Gedankenkonstruktion zu faktischem Handeln scheint immer noch als naive Übereinstimmung von Plan und Ausführung verstanden zu werden. Die Beschäftigung mit dem Konzept ,Gesamtkunstwerk', vor allem mit seiner Erscheinung als Totalkunst und Totalitarismus könnte dazu führen, uns andere Vermittlungen zwischen Gedanke und Tat nahezulegen. Totalkunst und Totalitarismus.

Ein Ganzes zur Sprache zu bringen, könnte zu der Annahme verführen, das sei bereits geleistet, wenn man sich gleichzeitig möglichst aller sprachlichen Medien und kulturellen Techniken bediene. Speziell im künstlerischen Bereich ist diese Annahme verbreitet, insofern man behauptet, ein Gesamtkunstwerk entstehe durch Addition der üblicherweise nur einzeln verwendeten sprachlichen Medien und künstlerischen Techniken. Darauf aber kommt es nicht an. Auch ein monomediales Werk -- wie eine Malerei -- kann Gesamtkunstwerks-Konzeptionen entwickeln. Entscheidend ist, ob ein Werk das Konzept ,Gesamtkunstwerk' zum Thema macht, also zu fragen und zu zeigen versucht, wie die Fähigkeiten der Menschen, sich selbst und seine Welt wahrzunehmen, zusammenspielen, so daß die Erfahrung eines übergeordneten Zusammenhanges möglich wird. Entscheidend ist vor allem, wie dieses Werk das Verhältnis zwischen gedanklichem Konstrukt und faktischem Handeln reflektiert. Ein Gesamtkunstwerk ist nicht seine eigene Verwirklichung, sondern Manifestation eines Postulats. Des gegen alle historische Erfahrung und prinzipiellen Einwände dennoch aufrecht erhaltenen Postulats, die Welt als Einheit zu verstehen und das eigene wie das Leben der anderen auf diesen Zusammenhang hin auszurichten. Trotz negativer historischer Erfahrung und prinzipieller Einwände läßt sich das Konzept ,Gesamtkunstwerk' rechtfertigen. Wir haben nun eben mal keine andere Möglichkeit, ,das Ganze' zur Sprache zu bringen als in hypothetischen Konstrukten. Aber es kommt sehr darauf an, daß wir uns bewusst bleiben, welcher Status den Utopien, Mythen, Visionen und Systemkonstruktionen zukommen darf. Dazu bedarf es der Aktivierung aller unserer Fähigkeiten zur sinnlichen und intellektuellen Wahrnehmung. Die Geschichte des Konzepts ,Gesamtkunstwerk' ist mit der Entdeckung verbunden, daß jede Wahrnehmungsaufgabe -- also auch eine monomediale Malerei, Plastik, Graphik oder Musikkomposition- immer zugleich alle sinnlichen und intellektuellen Wahrnehmungen stimuliert. Die Auffassung, daß Malerei nur das Auge, Musik nur das Ohr, Plastik nur den Tastsinn, Architektur nur den Raumsinn stimuliere, entspricht nicht den tatsächlichen Vorgängen in der menschlichen Wahrnehmung. Die historisch entstandene Spezialisierung der Gattungen wollte die Wahrnehmungsaktivitäten unnatürlich vereinzeln und kanalisieren, um so die einzelnen sinnlichen und intellektuellen Wahrnehmungsleistungen zu steigern. Einer der Künstler, die der Selbstaufhebung der Kunst durch Spezialisierung entgegentreten wollten, war Richard Wagner. Sein Musikdrama wollte das Gesamtkunstwerk als Modell für die Zukunft entwickeln. Auch wenn -- wie Wagner mehrfach zugab -- die Zusammenarbeit vieler so hochgradig spezialisierter Künstler, wie er selbst einer war, noch nicht zu seiner Zeit durchgesetzt werden konnte. Er mußte zunächst noch sich selbst Spezialisierung in möglichst vielen Arbeitsfeldern abverlangen, um so das Zusammenwirken der spezialisierten Gattungen und Medien zu erreichen. Auch die Erarbeitung eines verpflichtenden Weltbildes mußte zunächst von ihm allein versucht werden. Obwohl er ja ein historisch identifizierbarer Urheber seiner Weltbild-Erzählungen war, glaubte er, das entscheidende Kriterium der Verbindlichkeit garantieren zu können, indem er sich auf schon urheberlos gewordene Erzählungen, also Mythen, stützte und seine Erzählung als Dichtung auffaßte. Der Geist der Dichtung überschreitet in dem Maße die Subjektivität des Dichters, in welchem es dem Dichter gelingt, Erzählungen zustande zu bringen, in denen möglichst viele Menschen ihren eigenen Lebenswillen und ihre eigene Vorstellung von der Welt repräsentiert sehen. Die entscheidende Frage für die Entwicklung eines solchen Gesamtkunstwerks versuchte Wagner auf folgende Weise zu beantworten: wenn das künstlerische Tun durch das Gesamtkunstwerk vor der Auflösung in nichtssagendes, technisch leeres Virtuosentum bewahrt werden sollte, indem es dem Publikum gegenüber wieder einen umfassenden Anspruch auf Wirkung erhob, konnte diese Wirkung nur erzwungen werden, insoweit das Publikum als Publikum eine Rolle im Konzept des Gesamtkunstwerks übernahm. Das Publikum mußte auf die gleiche Weise zu einer Gemeinschaft zusammengeschlossen werden, wie die spezialisierten Künstler für das Gesamtkunstwerk zu vereinigen waren. Die Gemeinschaft der als Publikum am Gesamtkunstwerk Beteiligten konnte nur erreicht werden, wenn das Publikum wie die Künstler einem verpflichtenden Weltbild unterworfen würden. Für diese Aufgabe beriefen sich die Gesamtkunstwerker -- berief sich auch Wagner -- auf eine auch durch die Neurophysiologie wieder akzeptierte Tatsache. Im Unterschied zu den Wirkungen von Spezialisierungen im Kulturbereich zieht die hochgradige Differenzierung allen entwickelten Lebens gerade nicht die Verselbständigung nach sich, sondern erhöht die Fähigkeit zur Kooperation. Höchst entwickeltes Leben mit extremen Spezialisierungen steigert die Anpassungsfähigkeit, weil die einzelnen spezialisierten Funktionen so eine unendliche Zahl verschiedener Kooperationen eingehen können. Wagner hatte die richtige Vermutung, daß der künstlerischen Spezialisierung von einzelnen Gattungen und Medien die tatsächlichen Vorgänge in der Wahrnehmung nicht entsprächen. Wagner war bekannt, was heute allgemein als Synästhesie verstanden wird, nämlich die Kooperation mehrerer Wahrnehmungsorgane und ihrer Funktionen auch dann, wenn scheinbar nur ein Wahrnehmungsorgan angesprochen wird. Am bekanntesten war damals die gleichzeitige Aktivierung von Ton- und Farbwahrnehmung. Beethovens Programm-Musik (,Aufziehendes Gewitter an einem Sommernachmittag') schien zu zeigen, daß durch die Musik sogar komplette Bildvorstellungen hervorgerufen werden konnten bzw. sie diese unabweislich hervorrief. Diese Bildvorstellungen schienen von dem Eindruck begleitet zu sein, zugleich auch Temperaturen, Gerüche, Tasteindrücke und so etwas wie Atmosphäre und Stimmung hervorzurufen. Die Formen der Kooperation einzelner Wahrnehmungsorgane und ihrer Funktionen werden kulturell verstärkt. Ihre ausgrenzbaren Einheiten gelten als Topoi (,Sommernachmittag', ,Nächtlicher Wald', ,Morgenfrühe im Gebirge', .Die graue Vorzeit', ,Sieghaft-heldischer Blick'). Im übrigen sind alle, vor allem die sogenannten prekären Versatzstücke der Wagner-schen Ideologie, vom Antisemitismus bis zur Auferstehung durch Untergang als derartige Topoi zu bewerten. Solche Topoi brauchten nur angedeutet zu werden, um beim Adressaten viele Wahrnehmungsassoziationen hervorzurufen. Dieser betonte Aufruf der Wahrnehmungsassoziationen ist so etwas wie eine Pathosformel, deren komplexe Verknüpfung bei Wagner „Leitmotiv" genannt wird. Die künstlerische Aussage wird den Adressaten umso nachdrücklicher zur eigenen Sinnesaktivität führen, je dichter die Pathosformeln aufeinander folgen. Daß man Wagner heute als Stammvater der Filmmusik verstehen kann, liegt daran, daß die Filmmusik fast durchweg aus der additiven Aneinanderreihung von Pathosformeln besteht. Wagner addierte die Pathosformeln nicht, sondern integrierte sie. Aber er versuchte -- und das ist eine seiner entscheidenden Leistungen -- diese Integration nicht auf die Weise zustande zu bringen wie seine italienischen Kollegen. Diese integrierten die Pathosformeln durch Ausbildung von Melodien zur übergeordneten Gestalteinheit. Wagners Leitmotiv-Technik verlegt die Ausbildung eines Kontinuums der Pathosformeln und ihre Verflechtung zu einem Gesamtbild in die Wahrnehmungsleistungen des Publikums. Sie werden in ihrer Wirkungsmöglichkeit nur eingeschränkt durch die psychische Erarbeitungskapazität des Publikums, bleiben also prinzipiell offen. Deswegen ist eigentlich der Übergang vom Wagner-schen Gesamtkunstwerk zum Totalkunstwerk sehr naheliegend. Ein 24stündiges Wagnersches Musikdrama würde eine so starke Annäherung zwischen Ereigniszeit des Bühnengeschehens und Erlebniszeit des Publikums bedeuten, daß das Publikum sich bereits in einem Realexperiment über Zeiterfahrung befände. Aber diese Möglichkeit sieht Wagner noch nicht. Wie der bekannte Dialog zwischen Parsifal und Gurnemanz konstatiert, besteht Wagner noch auf der Werkeinheit, also der Verräumlichung und konkreten Beschränkung von Pathosformeln. Parsifal sagte: „Zwar schritt ich kaum, doch wähn' ich mich schon weit." Darauf Gurnemanz: „Du siehst, mein Sohn, zum Raum wird hier die Zeit." Das ist auf einer Ebene eine unüberbietbar raffinierte Parallelisierung zwischen realem Geschehen auf der Bühne und dessen psychologischer Verarbeitung zur Erfahrung des Weltzusammenhanges durch das Publikum. Wenige Schritte auf der Bühne können das Erlebnis großer zeitlicher Entfernung bedeuten. Auf einer zweiten Ebene -- „Zum Raum wird hier die Zeit" -- wird sichtbar gemacht, daß die prinzipiell offenen und endlosen Erlebnisstimulationen doch von dem konkreten räumlichen und zeitlichen Geschehen auf der Bühne abhängig sind. Auf einer dritten Ebene besagt der Dialog, daß jedes künstlerische Werk auch als Gesamtkunstwerk nur die Fiktion der Möglichkeit darstellt, etwas begrifflich Unabschließbares -- wie geschichtliche Zeiterfahrung -- dingfest zu machen. Totalkunst geht von dem konkret vorgegebenen Handlungsraum aus -- den Quadratmetern einer Leinwand, eines Ateliers, einer Bühne, eines Experimentierfeldes --, um dann diesen konkret vorgegebenen Handlungsraum zu verzeitlichen, ihn also geschichtlich und psychologisch aufzuladen. Der Totalitarismus dagegen versucht, solche abstrakten Funktionen wie Geschichte über die Bühnenrealität hinaus als realen Handlungsraum zu verwirklichen.

Das Konzept ,Gesamtkunstwerk' versucht immer auch, diesem Auseinanderdriften der Wahrnehmung und Reflexion entgegenzuwirken. Gesamtkunstwerke erwecken aber allzu leicht den Eindruck, selber schon der realisierte Gedanke eines umfassenden Ganzen zu sein, wenn sie gleichermaßen betont alle menschlichen Fähigkeiten zur sinnlichen und intellektuellen Erkenntnis stimulieren und auf eine Vision, ein umfassendes Bild, ein Gedankensystem ausrichten. So lange dieser Vorgang auf der Ebene des ästhetischen Scheins bleibt, ist dagegen nichts einzuwenden. Wer dieses Vorgehen selbst mit den allermenschlichsten und besten Absichten aus Theatern, Konzertsälen, Universitäten und Museen auf das Alltagsleben der Menschen übertragen möchte -- wer also Gesamtkunstwerke als soziale und politische Handlungsanleitungen mißverstehen will, verwandelt die hypothetisch konstruierten übergeordneten Zusammenhänge in eine Totalität. Dann allerdings ist es unumgänglich, z.B. den totalen Staat als ,Gesamtkunstwerk' zu definieren. Totalitarismus entsteht aus dem Verlangen, Utopien, Visionen und Systementwürfe vom Ganzen in der Lebensrealität der Menschen verbindlich werden zu lassen, indem diese Lebensrealität vollständig nach dem Bild des Ganzen geformt wird. Wer das Gesamtkunstwerk wort-wörtlich und bild-bildlich nimmt, wer begriffs- und bildgläubig die Verwirklichung von Utopien und Gedankensystemen durchzusetzen versucht, muß zwangsläufig totalitär "werden. Wer Spekulationen über das Ganze nur für gerechtfertigt hält, wenn sich diese Spekulationen identisch in die Lebensrealität möglichst vieler Menschen übertragen lassen, muß selbst dann totalitär werden, wenn er nichts anderes wollte, als gegen die beschränkte und schlechte Realität den denkbar menschlichsten Lebensentwurf durchzusetzen, um das Glück der Menschheit zu befördern. Totalitarismus ist fast immer Tugendterror. Die hier abstrakt angedeutete Beziehung zwischen politischen Utopien, philosophischen Systemkonstruktionen und künstlerischen Visionen einerseits, und deren hundertprozentiger Verwirklichung als Totalitarismus andererseits verweist auf eine dritte Position im Konzept .Gesamtkunstwerk', die wir als Totalkunst kennzeichnen. Totalkunst radikalisiert die Beziehung zwischen Fiktion und Realität. Sie demonstriert die Konsequenzen, die sich ergeben würden, wenn man wort- und bildgläubig die Entwürfe der Gesamtkunstwerke in die Lebensrealität vieler, ja aller Menschen umsetzen würde. Das Mittel, mit dem Totalkunst diese Radikalisierung erreicht, kann man als Symptomverordnung verstehen. Man versucht, der Begriffs- und Bildgläubigkeit als Ursache des Totalitarismus dadurch entgegenzuwirken, daß man sie ins Extrem treibt, bis mit wünschenswerter Klarheit die grausamen Konsequenzen erfahrbar werden. Von diesen Konsequenzen zeigt sich der Totalkünstler bis zur Selbstvernichtung betroffen. Seinem Werk droht die Auflösung. Denn: auch der Totalkünstler überschreitet die Sphäre des ästhetischen Scheins. Aber, im Unterschied zum Totalitarismus, unterwirft er nicht andere, sondern sich selbst der Rückvermittlung von Mythen auf den eigenen Lebenszusammenhang. Der Wirklichkeitsanspruch dieser Übertragung ist etwa der eines Realexperiments, wobei es allerdings nicht immer gelingt, für die enge Begrenzung des Experimentierfeldes und die strikte Kontrolle der eingesetzten Mittel zu garantieren. Derartige Realexperimente sind offensichtlich die bevorzugte Form, in der moderne Künstler die Vermittlung zwischen Spekulation über das Ganze und faktischer Unterwerfung unter das Ganze vorzunehmen suchen. Auf welche Begriffe von Gesamtheit, Ganzheit oder Totalität könnten sich heute Gesamtkunstwerk, Totalkunst und Totalitarismus berufen? Wer sind für sie die Träger des Anspruchs auf Einheitlichkeit, Vollständigkeit und Überschaubarkeit der Weltbilder und des tatsächlichen Lebenszusammenhanges?

Unter den heute allgemein verständlichen Auffassungen von übergeordneten Zusammenhängen läßt sich für das Gesamtkunstwerk jenes Modell einer Gesamtheit vergegenwärtigen, das unter anderen die Archäologen verwenden. Konkret vorgegeben sind den Archäologen jeweils nur Fragmente. Der übergeordnete Zusammenhang, zu dem diese Fragmente gehören könnten, wird von den Archäologen als hypothetische Annahme formuliert. Dabei macht man die Erfahrung, daß die gleichen Fragmente in sehr verschiedene Rekonstruktionen eines historischen Lebenszusammenhangs passen könnten. In der Tat haben ja Archäologen in den vergangenen hundertfünfzig Jahren anhand der gleichen historischen Fragmente sehr unterschiedliche Rekonstruktionen von Weltbildern und Lebensformen entwickelt, aus denen die Fragmente stammen konnten. Archäologen, die annahmen, sie hätten die einzige verbindliche Rekonstruktion gefunden, entstellten, ja zerstörten die Fragmente bei dem Versuch, sie in diese Konstruktionen definitiv einzupassen. Heutige Archäologen verzichten auf diese definitive Bestimmung historischen Materials, um es nicht totalitär durch Pflege zu zerstören. Damit wird der bloß hypothetische und fiktive Charakter der konstruierten übergeordneten Zusammenhänge betont. Nicht destoweniger läßt sich mit den historischen Fragmenten nur etwas anfangen, wenn man sie in übergeordneten Zusammenhängen sieht. Die Hypothesen und Fiktionen aber überlassen unser historisches Verständnis gerade nicht der Unverbindlichkeit, sondern erhöhen die Möglichkeit, dem historischen Material von heute aus Bedeutung zuzugestehen. Von unserem gegenwärtigen Ökologieverständnis her läßt sich der Typus einer Gesamtheit veranschaulichen, der für die Vorstellung von Totalkunst im Vordergrund steht. ,Die Natur' als allumfassendes Geflecht vielfältig miteinander in Beziehung stehender und andererseits doch geschlossener Lebensräume bleibt unerfahrbar. Nur die Art der Wechselbeziehungen kleinerer ihrer Einheiten kann vor allem durch Realexperimente auf beschränktem Raum und mit beschränktem Umfang erfahren werden; der Experimentator bringt sich selber als Konstante in dieses Experiment ein. Die Gesamtheitsvorstellungen des Totalitarismus lassen sich von heute aus am Beispiel jener übergreifenden Zusammenhänge andeuten, die einem Bundesbahnfahrplan zugrundeliegen. In diesem Modell wird jede Einzelbewegung nur im Hinblick auf alle anderen Bewegungen qualifizierbar. Aber die Art und der Umfang solcher Anschlüsse werden als abstrakter Plan vorgeschrieben mit der Absicht, die faktischen Bewegungen des Bahnverkehrs möglichst vollständig mit dem Plan in Übereinstimmung zu bringen. Für das Gesamtkunstwerk ist die fixierte Vision, Utopie oder Systemkonstruktion -- also das gestaltete Werk -- der Träger des Anspruchs auf Darstellung eines Ganzen. Für die Totalkunst ist das realexperimentierende Subjekt der Träger des Anspruchs. Der Totalitarismus faßt in betonter Weise das Leben selbst (die Massen) als Träger des Ganzheitsanspruchs auf, weil ja im Leben der Massen die Utopien verwirklicht werden sollen.

Bázon Brock


Aus: Bázon Brock, „Ästhetik gegen erzwungene Unmittelbarkeit", Gesammelte Schriften Bd. II, Köln 1986.
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HANG ZUM PATHOS



Wie steht es eigentlich um das Verhältnis von bildender Kunst und Musik? Den „Klang der Bilder" kennen wir aus Stuttgart. Der wichtigste Beitrag endet mit dem lapidaren Satz: „Musik wird gerade bei Geheimnissen gern zu Hilfe genommen"1. Den bildenden Künstlern war es nicht nur zu Anfang der 60er Jahre lästig geworden, daß ihre Malerei, ihre Skulptur, ihre Zeichnung eher schweigende, kontemplative Rezeption erfuhr. Diese setzt beim Maler ein introvertiertes Temperament voraus, das derartiges Schweigen vor dem Bilde, suspekte Andacht, auf Dauer erträglich macht. Die ideale Umgebung fand die Malerei in den Köpfen der neuzeitlichen Rezipienten im Studiolo der Renaissance, der Kirche des Mittelalters und dem bürgerlichen Studier- und Wohnzimmer, wie zuvor schon in der fürstlichen Galerie. Dort findet im kleinen Kreis das Gespräch der Kenner statt, die sich in die Imagination der importierten Welt des Bildes versenken und sich befremdet gegen die sie umgebende Außenwelt absetzten. Dagegen stand immer die vitale Sinnlichkeit des Theaters und der Musik, die sich immerhin durch Apoll göttlichen Ursprungs zeihen kann. Einen malenden Gott kennt weder die antike noch die christliche Mythologie. Bildende Kunst von Menschenhand ist von Anfang an den Göttern verhaßt und Prometheus' Tat ein permanentes Aufbegehren gegen die Herrschaft der Götter. Den Christen war das Bild verboten. Die bildende Kunst mag von ihrem mythischen Ursprung her diesen Akt des gewaltsamen Protestes wohl nie so rechtfrei in einen der befriedigenden Sinnenlust umzukehren, so bedient sie sich der therapeutischen Kraft der Musik und des Theaters, um auf ihre Kosten zu kommen.2 Den Beginn der „Kunstmetropole Köln" lokalisiert Herzogenrath wohl nicht von ungefähr in der Aufführung der „Originale" Stockhausens im „Theater am Dom" vom 26.10.-- 6.11.1961;3 für die nicht so Theatergängigen dieser Zeit sind weit wichtiger die musikalischen Ausstellungseröffnungen mit Paik und Moorman bei Zwirner in Erinnerung geblieben, weniger indes die Malerei, die bei solchen Gelegenheiten gezeigt wurde. Sie hatte nämlich mit dieser Musik ebenso wenig zu tun, wie die kubistische Malerei oder die ganze geliehene Metaphorik, die seit Diderots ästhetischen Schriften (1765) zum stehenden Bestandteil nicht nurmehr farbästhetischer Harmonietheorie geworden ist. Doch die ganzen interpretativen Bemühungen um die Erhellung der Wechselwirkung von Musik und Malerei im frühen 20. Jahrhundert erstickt in formaler Dokumentationslust, die der Absicht aufsitzt, die Worte der bildenden Künstler allzu ernst zu nehmen, nein: allzu wörtlich zu nehmen und dabei ihren metaphorischen Wert zu verkennen, wenn in der Sprache musikalischer Regelwerke der Anschein erweckt werden soll, Zugang zu einem kubistischen Gemälde zu erschließen. Die Erhellung kann nur aus dem Insistieren auf der Differenz erstrahlen.

Der Maler

Der Hang zum Pathos ist eine Frage der Dimension. Das Format eines Gemäldes, einer Skulptur determiniert ihren finalen Ort. So scheint es. Der wahre Ort aber ist die Kunstdrucktafel im Ausstellungskatalog. Dort vor allem garantiert sich das Nachleben des Künstlers, wenn er auch der Tradition nach angetreten war, mit seinem Kunstwerk das Nachleben zu garantieren. „Malerei besitzt in sich eine wahrhaft göttliche Kraft nicht nur insofern sie Abwesendes vergegenwärtigt, wie man auch von der Freundschaft sagt, sondern sie zeigt die längst Verstorbenen nach Jahrhunderten noch den Lebenden, so daß sie diese mit freudiger Bewunderung für den Künstler anschauen können", definierte Leon Battista Alberti im 2. Buch seiner Schrift über Malerei4 die Funktion des Bildes. Die pathetische Präsenz des Künstlers in seinem eigenen Werk hat ihre Spuren nicht nur im Selbstbildnis und in der Signatur auf dem Gemälde. Nicht nur Leonardos Fingerabdrücke sind als Zeugen der Authentizität ins rechte Licht gerückt worden, das Selbstbildnerische in der Malerei und Skulptur ist nicht nurmehr unfreiwillige Angleichung des Modells an die eigene Physiognomie, die den Satz von der „Handschrift" eines Künstlers, als dessen Personalstil -- das eigenwillige Ineinander von bevorzugten Inhalten und charakteristischen Formensprache -- gerne begriffen wird, mit einem Vielen greifbaren Inhalt füllte. Auch Künstler lesen gelegentlich derartige Abhandlungen. Sie informieren sich, manches spricht sich einfach herum. Und sie machen sich ihren Reim darauf. Oder auch eine Masche der Selbstinszenierung. Twombly -- nicht als Einziger -- ironisiert dies in einer Skizze, die nur mit seinem Namenszug in ständiger Wiederholung gefüllt war.

a sculptor

Pathos ist hohl. Das Erleben wird dem Nachleben vorgezogen. Die Aktionen des Künstlers im Atelier sind der Selbstdarstellung ebenso dienlich, wie die neue Ästhetik der großen weißwandigen Atelier- und Galerieräume, in denen karge Bilder drapiert wurden. Auch diese pathetische Kargheit -- wohlmeinende Neutralität gegenüber den wechselnden Objekten der Ausstellungen -- entgeht nicht in seiner reihenweisen Alternativlosigkeit dem Verdacht der phantasielosen Billigkeit. Die Maler und Bildhauer müssen diese gewaltige Leere füllen: Also ist es nur konsequent anzuhäufen, was immer zu einem Einfall sich anhäufen und wie anhäufen läßt, um der Klage vom verkannten Künstler zu entkommen, die sich noch immer am Nicht-Gedruckten negativ bemessen läßt. Ist der Verkauf eines Bildes ökonomisch sinnvoll und wünschenswert, so ist die pathetische Wirkung des gedruckten Namens und des reproduzierten (wenn auch nicht verkauften) Werkes psychologisch viel höherrangig geworden. Und das trifft nicht nur für die Anfänger zu, dem kann sich offenkundig noch kaum einer der Älteren entziehen. Das Mittel zur Werbung für das eigene Produkt wird notfalls auch bereitwillig als Mittel zum Überleben in der Erinnerung der Nachwelt ausgeschmückt: die Akzessoires sind vielfältig.

Der Brief: nicht jener private, intime von einst, als Briefe eine literarische Kultur ausmachten, auch wenn sie sich nur der Form bedienten, nein: Beliebige Dokumente des alltäglichen Nachrichtenaustausches, möglichst von einer Kulturinstitution, der Inhalt der Mitteilung mag noch so banal sein, bildet -- je banaler, desto besser, Pathos der Geschäftigkeit ab. Das Jubiläum (biographisch) fördert offizielles Pathos formelhafter Unverbindlichkeiten. Doch dies ist schon der Einstieg zur bürokratisierten Datenliste, die sich als biographisches Stenogramm, entpersönlichter Bildungsgang, Dosier der Normalität und Belanglosigkeit zum pathetischen Topos aufwerten läßt, einzig, weil an diesem Platz im Katalog untergebracht: Ein Muß. „Abb. 1" hat ein Selbstbildnis zu sein, suggestiv familiär, versonnen bei der Arbeit, meist jugendlich (als der noch Unbekannte -- aber der schon Bedeutendes Schaffende); eine Aufnahme der Staffelei im Atelier mit leerem Stuhl hat seit Menzels Adaption dieses Motivs und ihren romantischen Vorbildern selbstredende Evidenz des Pathos der Abwesenheit, der Apotheose aus antiker, wie späterhin dann christlicher Tradition (und dies vor allem für durchaus noch lebendige Künstler).

painter

Und dann die Texte. Christliche Tradition auch hier: die Hagiographie, Pathos des Lobes. Keiner der Lebenden käme auf die Idee, eine Sammlung bisheriger Kritiken -- auch die weniger löblichen -- in einem selbst betreuten Katalog zusammenzustellen (etwa im Sinne Gombrichs5), um ein lebendigeres Bild der Meinungen zu versammeln; die Schichtungen wären zu abträglich? Aufdeckung des längst Geläufigen, mit dem Anschein des Unerwarteten zu strecken, dem Skandalösen soweit Rechtfertigung angedeihen zu lassen, wie zur Durchsetzung eines bestimmten Stilwillens erforderlich scheint, um sie zur Konvention zu degradieren. Also das Gegenteil von dem zu erreichen, was die Einmaligkeit des „Neuen" ausmachen sollte. Diese Texte schildern im besten Falle. Nicht daß sie sich der bildnerischen Probleme annähmen; sie schildern die Lösungen, verdoppeln im schlechten Sinne das reproduzierte Oeuvre sporadisch, je nach Vorlieben des Autors in jener subjektiven Sachlichkeit des Tatzeugen, der sich der literarischen Klischees bedienen muß, um sich vom potentiellen Vorwurf der Kumpanei freizuhalten: Pathos der Auftragsarbeit. Und zu guter Letzt die gesammelten Worte, Fragmente einer Theorie, einer Lehre, Pathos der Revelatio, Enthüllungen des Vermächtnisses an die Nachwelt. Dessen Inhalt wird allemal zu einem Zeitzeugnis, noch in der negativen Wendung dessen, was nicht darin gesagt ist, mithin wogegen es sich richtet. Abhold jeder Polemik bleibt das Einzelne banal. Erst im konkurrierenden Miteinander der Gleichzeitigkeit gewinnt jedes an Profil, wenn auch nicht unbedingt ein überzeugendes.

Der Maler

Der sinnlichen Präsenz von Macher und Gemachtem am gemeinsamen Ort Raum zu gewähren und unbeschränkten, unkontrollierten Zugang von Anbeginn zu eröffnen: Dafür war Stollwerck allemale gut. Stätte der Produktion, der Präsentation und der rituellen Feiern, heterogener Bedürfnisse und Gewohnheiten entspringend, entging man hier der vertrauensseeligen Lüge, die von den gemeinsamen Interessen gesponnen wird, um die pathetische Einsamkeit der tatsächlich partikulären nicht hörbar werden zu lassen. Eingetauscht wurde hier fraglos dagegen ein fragiles Pathos gegenseitiger Duldung. Nicht wißbegierige Neugier bestimmte die Verhältnisse, mehr noch eher erschreckt-staunende Unverständigkeit vor dem ehedem kaum verstehbaren Fremden: Ein alltäglicher Verkehr im allmählichen Aneinander-Gewöhnen und der Selbstverständlichkeit der Gegenwart des Anderen, des noch so ,,Un-Kultur"-Verdächtigen (aus dem Blickwinkel des normalen Kulturkonsums). Wer, von außen kommend, hier andernorts kursierende Gerüchte bestätigt finden wollte, konnte ob des fehlenden Spektakels nur enttäuscht und bestenfalls irritiert am Grau der künstlichen Ruinen und ihrem schmuddeligen Un-Charme sich ergötzen -- wenn es denn so weit sein Geschmack noch kommen ließ: Pathos der underdogs.

a painter

Feste indes konnten es in sich haben: laut ging es her, das vor allem; alleine dies schon ein Gradmesser für investierte Phantasie und Energie. Buntheit dominierte -- im guten Sinne wohlverstanden. -- Alles erschien möglich, was Sprache, Farbe und Klänge möglich machten: Im Zweifelsfall sah keiner hin, hörte keiner zu; und dennoch zählte die Präsenz inmitten dieser begrenzten Öffentlicheit: Euphorie der Adepten und Neophyten, die sich der travestierten Kulturrituale so bedienten, daß auch noch der Verdacht auf trivialen Dilettantismus kein Urteil von ungebührlichem Gewicht zu werden vermochte, schon niemals ein Anlass zum Ausschluß: Auch dieser so Inkriminierte behielt ein Recht auf Teilnahme. Organisatorisch zuguter Letzt beständig eine Ruine, hat der Wille von Einigen fürs Kontinuum gesorgt: Pathos der Vergänglichkeit.

Peter Gerlach




Anmerkungen

1. Vom Klang der Bilder, Stuttgart 1985, Thomas Kallein, Intermediäre Tendenzen nach 1945, S. 442 ff
2. Günther Bandmann, Melancholie und Musik, Köln 1960
3. Die 60er Jahre. Ausst. Kat, Kunstverein Köln 1986, S. 15
4. De pictura II, 25, ed. Grayson, London 1972, S. 60
5. E. H. Gombrich, Symbolic Images, London 1972, S. 1 ff
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