Verfemte OrteEin mehrdeutiger Titel provoziert auch mehrdeutige Antworten auf die Frage, wo sich in der bildenden Kunst verfemte Orte lokalisieren lassen. Bomarzo, Palazzo del Tè, Piranesis Graphik haben auf ihre Art Fremdartiges, Labyrithisch-Riesiges gemeinsam mit verfemten Orten. Nur müssen diese nicht unbedingt diese Riesigkeit immer aufweisen, weil sie dies mit verwunschenen Orten teilen. Und diese wirken so, strahlen diese Verwunschenheit aus, weil sie abgeschlossen nach außen sind. Bedeutsam also wird ihre Grenze gegenüber der übrigen Welt. An dieser Grenze nimmt man sie von außen und von innen zu allererst wahr. Das trifft noch für diejenigen zu, die sie zu verfemten Orten machten. Denn sie distanzieren sich von ihnen durch soziales Verhalten, durch Abgrenzung eben und dadurch, daß sie sie Anderen oder sich selbst überließen. Verfemte Orte sind verlassene Orte, verlassen von der Normalität, dem Gängigen. Sie entwickeln ein Eigenleben. In ihnen entwickelt sich ein fremdes Leben. Heimlichkeit und Erotik gehören zu ihnen in den Augen derer, die zwar um die Abgrenzung wissen, den Glauben aber an die Berechtigung dieser Abgrenzung nicht mehr so recht teilen können und wollen. In ihren Köpfen wächst die drängende Neugier, sich am verrosteten Zaun aufzuhalten und durch die Stäbe zu spähen, begierig ängstlich zu erfahren, ob sie der angedrohte Bannfluch trifft, sie schädigt, sie verwundet, wenn sie länger als dringend erforderlich an dieser Genze sich aufhalten, besonders dann, wenn da immer wieder verboten wurde. Die ersten Schritte in dieses Gebiet hinein sind zögernd und leise. Verfemte Orte sind scheinbar ohne Leben. Die Ruhe dort allein ist befremdlich, ja eben das Verdächtigste. Diese Ruhe zu stören ist das erste Sakrileg, das es zu begehen gilt, weil ein zürnender Gott, ein hinkender Gärtner, eine alte, gebeugte Hexe den Eindringling unfreundlich oder barsch zum Verlassen auffordern könnte. Doch vorher noch droht eine viel schlimmere Strafe: nämlich die erschreckende Frage nach dem Begehr, das den heimlichen Eindringling die Grenze überschreiten ließ. Die Erwartung dieser Frage - und weil sie plötzlich an erwartet-unerwarteter Stelle gestellt werden könnte - gibt ihr dieses Gewicht, mit der sie drückend lastet. Verfemte Orte sind Orte über die man nie spricht. Sie betritt man heimlich und die Erinnerung an die Entdeckung, die man dort gemacht hat, teilt man mit niemandem. Sie bleiben ein gehüteter Schatz von Eindrücken und Bildern, die jene Verbindung von Unbehagen und Entdeckerglück, von letzlich sanktionsfreiem Übertreten von Verboten ausmachen, das man nur für sich alleine erleben kann. Es eignet sich nicht für Medien und nicht für Massenkultur. Publizität und fröhlicher Rummel sind ihr Gegenteil. Der verfemte Ort ist ein Stück Umwelt: eine Buschgruppe auf einer entlegenen Wiese, ein Wäldchen über dem Bach, ein altes Haus in einem verwahrlosten Park. Verfemte Orte sind aber auch verstaubte Bücher, ganze Stadtteile und Straßenzüge, sind Ecken im Gehirn und in der Seele und im Bauch. Es ist wollüstig in ihnen zu verschwinden, heimlich sich dort umzutun. Es ist aber auch verboten, zumindest unschicklich und sinnlos sich mit ihnen zu beschäftigen. Sie sind nicht gefragt, sie verstoßen gegen das decorum. Kinder haben einen unwiderstehlichen Spürsinn für verfemte Orte an ihrem eigenen Leib und in ihrer nächsten Umgebung. Sie vermuten dort nichts, weil nichts dort einen Namen hat und entdecken dann dort alles, was lustvoll wahrzunehmen ist. Sie entdecken die Höhle, die Ruine und die Wüste. Sie entdecken eine Bilderwelt, in der eine andere als die gewohnte Ordnung herrscht. Alles dies ist Sache der Kunst zugleich. In gleichem Masse, wie Ordnung in der Kunst herrscht, lockt der Verstoß gegen diese Ordnungen, gegen diese Regeln und sei es nur, um herauszubekommen, was an ihnen letztlich so faszinierend sei. Wenige Künstler haben sie bildlich so auf den Begriff bringen können, daß ihre Bilder sich unlöslich als zitierbare Metaphern eigneten. Giganten und Zwerge bevölkern diese verkehrte Welt, steinern leblos zuweilen oder aber auch von grotesker Beweglichkeit, deren Botschaft nie aufgebraucht ist und auch nie vollständig verbraucht werden kann. In den Urstoffen der Märchen entdecken wir ihre frühen Spuren und prägnanten Gestalten.1 Manierismus der neueren Zeit hinterlies uns die noch jetzt überzeugendsten Bilder von ihnen. Die sanierte Umwelt der jetzigen Großstädte verführte eine ganze Generation, wenn immer es um den Abriß ökonomisch obsolet gewordener Viertel ging, sich der frühen Erfahrung mit den Nachkriegs-Ruinenecken eben jener Großstädte wehmütig zu erinnern. Die Zeit des drohenden Abrißes brachte diese Wehmut hervor und setzte Emotionen frei, die erfahrene Vergangenheit gewaltsam schwinden sah. Die Abwehr war ebenso heftig, wie vergeblich. Eine ganze Generation erfuhr, daß sie ins Alter gekommen war. Längst hatten sich an diesen Orten sozial Verfemtes eingerichtet, das nun ausgetrieben werden soll, bürokratische Exhorzismen provozierend mit ihrem ganzen grotesken Ritual: zwischenzeitlich durchliefen diese Orte die klassische Trias der Bilder verfemter Orte: Höhle, Ruine, Wüste. Letzteres auch als unbefestigter, wilder Parkplatz, Rückkehr zugleich zur "Natur". Gelegentlich durfte sich hier unbeobachtet ein Biotop längst ausgestorben geglaubter Arten heimlich einnisten.2 Die Geschichte der Künstler-Ateliers in Fabrikruinen ist keineswegs geschrieben. Noch sind sie hier und dort zu besichtigen. Ihre Kennzeichen sind Unkraut entlang der Mauern und leere Lagerflächen, auf denen vereinsamter Kunstwerksfragmente-Schrott - oder doch nur Schrott? - deplaziert, unbeachtet verfällt. Ihr Inneres ist unberechenbare Architektur von grotesker Weite und höhlengleichen Innenräumen, in denen werkelnde Typen ihre befremdlichen Gestalten aus einem Chaos von Rohem, Unfertigem und Abfall hervorzaubern. Hier ist es das Kunstwerk, das verfremdet selber die Gestalt des Giganten oder Zwergen annimmt. Nicht stützt es die Ästhetik des kahlen, weißgetünchten Galerieraumes für die es gemacht wird, stimmig in Proportion und Farbigkeit. Hier gruppiert es sich mit Anderem und ist bald Stütze, bald Unterlage, mal Ablage. Hier zeigt es sich aus ungewollten Perspektiven, fragmentarisch und wie zufällig uninszeniert. Hier ist es Kunstwerk erst zu allerletzt, nachdem es erst einmal Material, bizarre Gestalt und zufällig, aber nicht zu entschlüsseln, Form ist. Nicht das Detail wird kommentarlos klar, es sind die Strukturen, die das Gemeinsame solcher Orte erkennbar werden lassen. Es sind die nämlichen Strukturen, die sie in der Geschichte der neueren Kunst zu jenen raren Exempla untereinander unvergleichbarer Werke werden ließen. Piranesis Carceri und seine Antichità Romane gehören in diese Ahnenreihe, ebenso wie Hermann Warms Architekturen für den Film Das Cabinet des Dr. Caligari.3 Es ist das kippende Haus im Tal des Sacro Bosco di Bomarzo, der Orkus und die Giganten dieses verwunschenen Gartens. John Martins Städte im Inferno zeigen in Höllenglut, was C.D. Friedrich im Eis zerschellen ließ. Es sind die einstürzenden Bauten im Palazzo del Tè ebenso, wie auch die Entwürfe Etienne-Louis Boullés für den Kenotaph Newtons. Zitiert wird und indem zitiert wird, wird zugleich verfremdet. Proportionen wuchern ins Gigantische oder wenigstens tut die Inszenierung ihr Bestes, um sie aus dem gewohnten Maßstab zu entrücken, durch ungewohnte Nähe oder auch eine absurde Verkleinerung. Aggregatzustände werden willkürlich geändert und in ihrer Wirkung gesteigert: Flüssiges wird kristallin, Festes durch Feuer verflüssigt und flüchtig. Funktionen gelten nicht mehr. Formen - unbrauchbar für den Menschen - werden zu einem Eigenleben erweckt und anthropomorphisiert. Stützen eben zu Atlanten, Dächer zu Landschaften, Treppen zu Eingängen, die nirgendwohin führen; Gänge zu klaustrophoben Schläuchen, Ornamente zu Bauwerken, Stifter zu Giganten, die sich ihres Architektur-Modells, wie einst der erzürnte Moses der Gesetzestafeln, entledigen und mit drohend erhobenen Armen das Werk auf den Besucher niederschmettern. Dies sind die Mittel, mit der die Trias von Unterwelt, bürgerlicher Normalität und erhabener Geistigkeit sich in ihre zweite Natur verwandeln und miteinander als Metamorphosen verbunden sind. Es sind Bilder, in denen erinnerte Zeit und Zeit der Erinnerung gegeneinander aufgewogen werden und wehmütig Differenzen, unauflösliche Differenzen zur Sprache gebracht werden sollen, die aber den Worten und Bildern sich immer wieder entziehen und den Topoi Platz geben. Als ein solcher Topos, eine unspezifische, vielseitige Redewendung taugt der Begriff vom "verfemten Ort". Anmerkungen:
1
A. Nitschke, Soziale Ordnung im Spiegel der Märchen, Bd. 1-2, Stuttgart 1976.
2
F. Mühlhaupt, Der Anhalter Bahnhof - Versionen. In: Mythos Berlin, Concepte. Berlin 1986, S. 25.
3
H. Scheugl und E. Schmidt jr., Eine Subgeschichte des Films. Lexikon des Avantgarde-, Experimental- und Undergroundfilms, Bd. 1,
Frankfurt a.M. 1974, S. 194-195.
In: »Der verfemte Ort. Adem Yilmaz Skulpturen: Innen / Außeninstallationen. Annosaal im Stollwerck.« Ausstellungskatalog Köln (1986), S. 5 - 11 » figg. in corresponding gallery |