MUSENTEMPEL

oder das Labyrinth mit tausend und keinem Ausgang




Kann Kunst noch Wahrheit vermitteln, ohne zugleich ebenso destruktive Konsequenzen zu haben wie alle übrigen Versuche des Menschen mit der Natur umzuspringen, sie zu bändigen und sie sich dienlich zu machen? Längst wissen wir und erfahren es täglich, daß diese ganze auf Empirie gegründete Suche nach Wahrheit über die Wirklichkeit immer nur dazu dient, bisher für glaubwürdig gehaltene Wahrheiten aIs höchst mangelhafte Bilder der Vorstellungen von einer außer uns liegenden Wirklichkeit zu denunzieren. Kunst ist in diesem Denken wirklich nur der Bereich, wo es immer schon nur um den schönen Schein, die Illusion und das Ideelle ging. Dort ist eben alles nur Bearbeitung von Fiktion, nur elaborierte Handhabung von Simulationen von jeher schon gewesen.

Gemessen an den Einsichten der strengsten Wissenschaften und den Geschichten ihrer großen Entdeckungen, muß dort eigentlich ebenso von Phantasie und Inspiration gesprochen werden, wie es selbstverständlich zum Begriffsrepertoire der Künste zählt. Das Geheimnis der Kunst, ihre immer wieder überraschende und faszinierende Wirkung besteht doch gerade darin, daß sie im Spiel mit der sinnlichen Erfahrung an ihren Materialien uns —mehr oder weniger gelungen— davon überzeugt, daß wir uns ihre Produkte sinnlich unmittelbar, ohne merklichen Aufwand an Kenntnissen, speziellem Wissen usw., aneignen könnten. Dabei werden in der Kunst Materialien genutzt, die an sich nicht sonderlich sinnlicher erfahrbar sind, als die Materialien anderer Bemühungen der Menschen, etwas an Wahrheit über diese Welt in Erfahrung zu bringen.

Weil aber in diesem Spiel die sinnliche Erfahrung, der Schein sinnlicher Unmittelbarkeit nun aber keineswegs das Primäre, sondern ein mühsam errungenes Letztes ist, das uns erst nach einiger Bemühung im Umgang mit Kunst als Effekt selbstverständlich dünkt, glauben wir schließlich, sie uns als sinnlich Unmittelbare aneignen zu können. Dieser unausrottbare Anspruch auf sinnliche Unmittelbarkeit, der von Künstlern ebenso vehement vorgetragen, wie er von Liebhabern und Kennern als Kern ihres Bekenntnisses verteidigt wird, ­trägt Züge von — nunmehr — emotionaler Unmittelbarkeit, die kaum dem offenen Diskurs zugänglich bleibt. Dieser überzeugte Glaube und die ängstliche Verteidigung seiner Stimmigkeit rührt wohl gerade daher‚ daß die Effekte der Kunst weniger auf eine externe Wirklichkeit um uns herum verweisen, als vielmehr auf den je Betroffenen selber. Kunst ist also nicht Ausdruck nur der Subjektivität des Künstlers, sondern im gleichen Maße der Subjektivität des Betrachters.



Gefäß für und von Zeit

Adem Yilmaz' Arbeiten setzen voraus, daß es eine externe Realität gibt, die in uns Empfindungen erzeugt und erzeugt hat. Dabei kann er keinen Unterschied gelten lassen zwischen solchen Erfahrungen, die von einem Erlebnis herrühren, die aus den puren materiellen Qualitäten an Dingen entspringen und solchen, die aus dem gedeuteten Umgang mit derartigen Dingen Eingang in die Erlebniswelt gefunden haben. Geschichte‚ Mythologie und soziale Welt der Zeit seiner Kindheit verbinden sich für ihn mit der europäischen Kulturgeschichte, die sich in Kleinasien ebenso als Teil des ländlich agrarischen Alltaus vorfanden, wie sie ihm als disparater Inhalt von Vorstellungen und Phantasien an seinem jetzigen Arbeitsort wiederbegegneten. Beide Quellen seiner Inspiration sind letzlich fiktiver Natur, sie stellen sich als ein unordentliches Gemenge von unzusammenhängenden Elementen heraus, auf die er eine Bedeutung projeziert. So ist und bleibt er ein Gefangener der ihn ständig begleitenden Erfahrung von Deutungsfragmenten, die ihn nicht zu sich selbst kommen lassen, die immer weiter von ihm fort weisen. Er bezieht seine Stellung innerhalb eines Regelkreises von Forderungen nach Kunst, die ihn von einer Ausstellung zur nächsten treiben, in denen er auf der Suche nach der asthetischen Dimension seiner Subjektivität eine phantastische Welt konstruiert, in die er alles hineinschleppt, was ihm als Autor zur stetigen Bestätigung verhilft.

Von »Davul-Deformance« über »Hang zum Pathos« und »200Minus1« bleiben die Elemente bis zum »Musentempel« gleichartig. Große Räume füllt er mit Zwangswegen, die zu prüngen in völlig disparate Assoziationsbreiche nötigen. Der Kubus des Raumes ist durch ein simples Achsenkreuz in vier Bereiche geteilt: vier »Zei­ten«, vier »Orte«. Die Mythologie kannte indessen neun Musen, hier finden wir sie nicht wieder. Wir gelangen in einen Ort, der eher einem Orakel gleicht. Ein heller quadratischer Mittelraum umgeben von vier dunklen Gängen spielt mit dem Gedanken an geometrische Elementarformen ebenso, wie mit längst überholten Bildern vom Kosmos. Mit Festungsmauern umgeben grenzen diese den »Lichthof« zu den Gängen ab. Von wo droht denn da nun ein Feind oder eine Gefahr? Die fingierten Mauerstützen schützen das Innere gegen die schmalen Gänge, in denen der »Ursprung der Geschichte«, das »auflaufende Rad«, ein verheißungsvolles »Licht« und der »Getreidesamen« als ebenso kompakte wie völlig offene Assoziationsträger begegnen. Der fingierte kristalline »Marmor« macht schließlich sich selbst und die übrigen „Bilder“ zu gänzlich disparaten Hüllen für »Zeit«. Selbst diese, wie die übrigen ebenso illusionierten unterschiedlichen Aggregatzustände simulieren elementare Kräfte, wie »Bewegung«, »Wärme«, »Leben«, mit denen die Fiktion eines überschaubaren, geschlossenen Bildes von Realität suggeriert wird, das allem zugrunde läge. Das platonische Höhlengleichnis darf mit gleichem Recht aus den Elementen konstruiert werden, wie die Legende von den Metamorphosen, die zum naturwissenschaftlichen Begriffsrepertoire ebenso selbstverständlich gehört, wie zum Vokabu­lar der fabulierenden Sprach-Kunst. Und schließlich fabuliert der Plastiker Yilmaz mit seinen schwebenden Skulpturen im Innenraum. Sie schweben, ihren Matisse'schen Reigen tanzend, über dem Mittelpunkt im Mittelpunkt.

Natürlich soll Kunst nicht nur belehren und rühren, sondern auch erfreuen. Sie tut es noch unbeschwert (in einer Hamburger Ausstellung stürzte sehr wohl eine schwebende Figur von Yilmaz ab). Auf der Empore schließlich passiert eine spielerische Revue von durchaus leidenden und leidvollen Gestalten, die in eine lichtvolle Höhe gestellt, nunmehr die durchaus nicht erhebende Befindlichkeit von Individuen in Szene setzen und eher als von der Geschichte getriebene, denn als von den Musen der geschichtlichen Zeit beflügelte anmuten. Diese Galerie ist ein »Musentempel« ganz neuer Art: ein Museum im Museum, in dem säuberlich Plastik an Plastik gereiht »Kunst« in einer ebenso aktuellen, wie nun an Banalitäten kaum noch zu übertreffenden Form des Arrangements uns begegnet.

Wenn an Kunst der Anspruch gestellt wird als der Ort authentischer Erfahrung zu gelten, wird hier nicht mit dem Pathos der Abgründigkeit experimentiert, sondern offenkundig über einen Selbstausdruck fabuliert, worauf man sich einlassen kann. Yilmaz inszeniert ein Bühnenbild, auf dem die Betrachter als Mitwirkende agieren müssen. Er entführt sie in eine Mischung aus Freizeitpark und Erlebnisraum und er – nur er – garantiert für die aurathischen Werte seiner Produktion. Seine Kunst ist nicht anstößig, sie ist vielfach gebunden an die Kunstproduktion der Gegenwart. Sein Werk ist ein Schnitt durch die unendliche Menge des Möglichen, ausgegrenzt von der Welt draußen, aber durch den Museumsbau, den er benutzt, um so fester in ihr verankert. Diese Art von Rauminstallation hat programmatischen Charakter. Sie ist ebensowenig sinnlich unmittelbar zu erfahren, wie jede andere Erscheinungsweise von Realität.

Sind die Zitatkollagen zum »Musentempel« der übrigen Beiträge in diesem Katalog näher an dem Werk von Yilmaz als meine eigenen Überlegungen, die ihr Entstehen dem Gespräch mit dem Künstler verdanken? Ich sehe seine Arbeit zugleich im Umfeld von Mario Merz und Sigmar Polke, im anatolischen Landleben ebenso verankert, wie in der Kölner Kunstszene. Keines von allem ist ganz da, von allem ist ein Weniges erborgt: der »Musentempel« ist keine hehre Instanz der authentischen Inspiration, vielmehr ein mühseliges Ringen um Konsistenz, um Zusammenhalt eines Ganzen, das sich dann doch immer wieder als eine Reihung der Fragmente von Kunst-Zitaten auftut. Die Zufälligkeit ihrer Auswahl hat letztlich nur eine Rechtfertigung: sie ist die des Künstlers, der uns seine Geschichte erzählt, obwohl am Anfang vielleicht nur der Zufall stand, der bei der Auswahl der Bestandteile bestimmend gewesen ist.

Die Illusion des Ensembles überzeugt ob ihrer Perfektion. Und wo diese nicht reicht, lassen wir uns gerne auf diese Illusion ein und verkürzen den rohen Bruch der Lattenfragmente zur lebendigen Bewegtheit seiner Skulpturen. Erst dann wird die expressive Qualität ihrer Suggestionen, der vom Künstler gewollte Ausdruck für uns sinnfällig und damit sinnlich evident. Die Musen, einst als außerirdische Quellen der Inspiration, also der spontanen Einsicht in Wahrheit gefeierten Mächte, haben sich längst auch nur als Bilder menschlicher Einbildungskraft herausgestellt. Yilmaz' Werk mutet mit seinen Arbeiten diese Bemühungen jedem Betrachter zu. Den »Musentempel« müssen wir selber an uns zulassen, nicht aber um »Wahrheiten« über die Welt spontan zu erkennen, sondern allenfalls um uns unserer Illusionsfähigkeit inne zu werden.

Damit können Erinnerungen hervorgerufen werden, die uns zu sehr unterschiedlichen Stadien unseres bisherigen Lebens zurückführen. Damit aber erfahren wir uns nicht als dauerhafte, konsistente Individuen, sondern gelegentlich als an uns selber Fremde, die zu Zeiten Personen waren, von denen wir uns inzwischen selber weit entfernt haben. Diese Fremde hervorzurufen und auf der Begegnung mit diesem Fremden zu insistieren, das unterscheidet Kunst heute ganz zentral von allen Bereichen unseres alltäglichen Lebens, die uns ungestörten Genuß unseres derzeitigen Selbstverständnisses verheißen.

Peter Gerlach

In: »Musentempel«, Ausstellungskatalog Kunstverein Mannheim in der Kunsthalle Mannheim, hrsg. von Adem Yilmaz, Mannheim 1988, S. 7 – 10.



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