Gleichheit:
Die Räume sind gleich groß, aber einer liegt vorne. An einem langen Flur gelegen, wie
Klassenzimmer in der Schule, Büros in öffentlichen Verwaltungsbauten oder Krankenhäusern läßt
die ungewöhnliche Ökonomie der Verkehrsflächen bei leergeräumten Zimmern und offenstehenden
Türen Stimmung wie beim Auszug aufkommen, Verlassen-Stimmung, die Stunde von erinnerten
Minuten: Vanitas. Denn da irgendwo der letzte sein muß, ist diese inszenierte Fiktion von Gleichheit
Illusion, denn irgendwo muß ein Erster sein, läßt man die Logik der Kausalität grammatikalisch
gelten. Weit ab liegt alles von den Kunsthallen und Galerien: die Rückseite eines Viertels der Stadt,
von der Rückseite deren Schauseite, mit einer unbekannten Geschichte, weit ab auch von Kunst.
Hier dringt man in die stilliegende Intimsphäre eines ganzen Häuserblocks ein. Schon die Wahl des
Ortes macht das zur Kunst, auf was wir neugierig sein sollen; unsere Neugier auf die Werke macht
uns hier, ganz überflüssigerweise, ganz nebenbei, zu Fremden, zu Voyeuren. Der abgelegene Ort,
der lange Weg durchs Treppenhaus, dem man allenthalben anmerkt, daß keiner mehr für die ihm
gleichgültig angemessene perfekt-lieblose Sauberkeit sorgt. Die Atmosphäre eines
Galerie-Messe-Hintereingangs alleine schon stimmt Kunsterwartung an. Daran konnte keiner der
beteiligten Künstler vorbei: auch so bestätigten sie sich als Urheber für Sinn, darum sind sie hier
versammelt.
Freiheit:
Die nötige Distanz zum kommerziellen Kunstbetrieb ist nurmehr geographisch fingierbar. Es sind
wohl die eigenen ästhetischen Obsessionen, die jeden Einzelnen bei der Zusammenstellung seiner
Objekte geleitet haben, dazu waren die kahlen, weiß gestrichenen Räume nüchtern genug, aber
sicher nicht genügend karg und nicht genügend weiß. Die Künstler leihen mit ihrer Individualität
selbst dem Ort noch eine Aura: Miniatur-Museen, Kleinstgalerien, begehbare Kunstwerke kamen
dabei heraus, deren Rahmen konsequenterweise die Wände sind. Sie widersetzen sich in profaner
Selbstbehauptung jeder thematischen Verbindlichkeit: ein gemeinsames Thema haben sie nicht,
jedenfalls nicht das, was der Veranstalter sich dabei gedacht hatte: die Räume sind quadratisch und
der Katalog wird quadratisch, der heimlich-offene Appell an das schwarze Quadrat von
Malewitsch, das fundamentale Ur-Un-Bild des 20. Jahrhunderts also. Es fand sich ein anderes:
kleine Räume, also jeder ein Miniatur-Merz-Bau? Licht rein oder Licht raus? Kunst = Kunstlicht für
die Erinnerungshöhlen, die Empfindungs-Laboratorien. Unweigerlich wird jede Tür zum
Mattscheibenersatz. Drinnen ist's so eng, daß eine ästhetisch-beschauliche Distanz kaum möglich
wird. Der Besucher steht, wo immer er steht, in der Kunst.
Brüderlichkeit:
Eine Versammlung von Markenzeichen, die an ihren demonstrativen Gesten zu erkennen bleiben:
Das haben alle hier Vertretenen bereits zuvor für sich erreicht. Nichts Neues, wie von Experten für
die Gestaltung visueller Formen zu erwarten? Gegenutopien zur zerbröselten Fiktion vom urbanen
Leben? Individuelle Autoren bleiben sie in ihrer fiktiven Position zu den individuellen
Erinnerungsresten, die hier auf ihre Mitteilbarkeit überprüft werden sollen. Buthes blau-rot-goldene
Sternenhimmel, samt afrikanischen Idolen ebenso wie Ennepers graphit-geschwärzter Doppelraum,
Lambertins braun-graue Photoleinwände, Jetelovas Mammut-Holz, Serys schwebende Türen und
Mönnigs karges Objektensemble: eine Musterschau von Innenraumgestaltern, samt Blume
(gemeinsam mit Martin Eckrich) und Jårg Geismar.
Bühnenbildner, Ausstatter, Dekorateure: Könnt ihr euch hier Anregungen holen? Die Künstler
haben euch sicher so nebenbei manchen Einfall abgeschaut jedenfalls ist die Schaufenster-Technik
präzise einfach (und dabei sehr viel teurer geworden, als vorgesehen). Begehbare Bilder sind
zusammengehängt, gezimmert, gespannt, gestrichen und genagelt worden. Je spärlicher die
Assemblage, desto offener die Assoziation: „Die letzten Aufzeichnungen von Gedankengängen .. ."
schrieb Marina Makowski auf eines ihrer Fotovergrößerungen, „... und deren Umsetzung durch die
Probanten", schließt dieser Sinnspruch, das ,Lemma' zur Folge aller dieser Bilderrätsel ohne
Geheimnis, die sich zwischen Kindheitserinnerungen und Fernweh-Exotik angesiedelt haben.
Karg bei Georg Herold und Jårg Geismar, hermetisch geht's bei Yilmaz zu: Dunkelblau, finster und
Weizen, Licht und Fruchtbarkeit. Wärme und Reichtum als ein agrarischer Jugendtraum. Billig
waren sie allemale,die Anlässe. Nichtsdestoweniger waren es heere Träume von einer besseren
Zukunft, die durch das Altern und den Alltag heute längst eingeholt und überholt sind, aber es sind
mitteilbare Erfahrungen.
Die Kunstbäume von W. Luy sind nunmehr schon die dritte Abschrift der längst in Plastik käuflichen
dreckfesten Ersatznatur; ein Blick hinaus auf die Mansarden der Häuser gegenüber klingt wie eine
Fortsetzung: Dort stehen fein mittig angeordnet die modischen Zimmerpflanzen disproportioniert
groß im engen Fensterrahmen, viel Topf, viel Rahmen und eine Pflanze, die sich nicht so recht in den
Rahmen fügen will. Gegenüber schaut aus allen Bildlein uns Polke an. Die grauen Miniaturen sind ein
exzellenter Beitrag zu einer Karikaturen-Biennale, die es nicht gibt. Altbekanntes wunderlich bei
Blume/Eckrich. Die Scherze, derWitz ist selbst bei dieser Kunst noch immer rar, die Künstler
witziger in der Unterhaltung als in ihren Bildern. „Naturschutz ist Staatsbankrott", „Treudeutsche
Peinture" sind, positiv oder negativ gewendet, Lambertin-Sprüche, die auch auf diese Ausstellung
passen. Die Ironie ist längst so beängstigend müde wie die Nachrichtensprache. Die Stichworte sind
bekannt, die Bilderrätsel so selbstverständlich zu lesen wie Werbesprüche: Gegen diese glauben wir
uns resistent und nutzen in unserem Jargon ihre Strategie. „Maulfaules Reden" verdächtigte mein
Lateinlehrer schon 1950 als Quelle jeglicher geistigen Dekadenz (er hatte von Insider-Sprache und
ihrer Funktion noch nichts gehört, denn die seinige wurde staatlich honoriert - uns zur Qual). Es ist
nur konsequent, was hier alles geschieht. Die erzwungene Sonderstellung von Kunst gesteht hier
einmal mehr ihre sinnstiftende Ohnmacht gegenüber Wirklichkeit ein: Trotzig mit ihr spielend trägt sie
eben diese wunderlich schön, abstoßend und sinnlich vor.
Peter Gerlach