200 MINUS 1
BILDERRÄTSEL IN KUNST- UND WUNDERKAMMERN




Gleichheit:
Die Räume sind gleich groß, aber einer liegt vorne. An einem langen Flur gelegen, wie Klassenzimmer in der Schule, Büros in öffentlichen Verwaltungsbauten oder Krankenhäusern läßt die ungewöhnliche Ökonomie der Verkehrsflächen bei leergeräumten Zimmern und offenstehenden Türen Stimmung wie beim Auszug aufkommen, Verlassen-Stimmung, die Stunde von erinnerten Minuten: Vanitas. Denn da irgendwo der letzte sein muß, ist diese inszenierte Fiktion von Gleichheit Illusion, denn irgendwo muß ein Erster sein, läßt man die Logik der Kausalität grammatikalisch gelten. Weit ab liegt alles von den Kunsthallen und Galerien: die Rückseite eines Viertels der Stadt, von der Rückseite deren Schauseite, mit einer unbekannten Geschichte, weit ab auch von Kunst. Hier dringt man in die stilliegende Intimsphäre eines ganzen Häuserblocks ein. Schon die Wahl des Ortes macht das zur Kunst, auf was wir neugierig sein sollen; unsere Neugier auf die Werke macht uns hier, ganz überflüssigerweise, ganz nebenbei, zu Fremden, zu Voyeuren. Der abgelegene Ort, der lange Weg durchs Treppenhaus, dem man allenthalben anmerkt, daß keiner mehr für die ihm gleichgültig angemessene perfekt-lieblose Sauberkeit sorgt. Die Atmosphäre eines Galerie-Messe-Hintereingangs alleine schon stimmt Kunsterwartung an. Daran konnte keiner der beteiligten Künstler vorbei: auch so bestätigten sie sich als Urheber für Sinn, darum sind sie hier versammelt.

Freiheit:
Die nötige Distanz zum kommerziellen Kunstbetrieb ist nurmehr geographisch fingierbar. Es sind wohl die eigenen ästhetischen Obsessionen, die jeden Einzelnen bei der Zusammenstellung seiner Objekte geleitet haben, dazu waren die kahlen, weiß gestrichenen Räume nüchtern genug, aber sicher nicht genügend karg und nicht genügend weiß. Die Künstler leihen mit ihrer Individualität selbst dem Ort noch eine Aura: Miniatur-Museen, Kleinstgalerien, begehbare Kunstwerke kamen dabei heraus, deren Rahmen konsequenterweise die Wände sind. Sie widersetzen sich in profaner Selbstbehauptung jeder thematischen Verbindlichkeit: ein gemeinsames Thema haben sie nicht, jedenfalls nicht das, was der Veranstalter sich dabei gedacht hatte: die Räume sind quadratisch und der Katalog wird quadratisch, der heimlich-offene Appell an das schwarze Quadrat von Malewitsch, das fundamentale Ur-Un-Bild des 20. Jahrhunderts also. Es fand sich ein anderes: kleine Räume, also jeder ein Miniatur-Merz-Bau? Licht rein oder Licht raus? Kunst = Kunstlicht für die Erinnerungshöhlen, die Empfindungs-Laboratorien. Unweigerlich wird jede Tür zum Mattscheibenersatz. Drinnen ist's so eng, daß eine ästhetisch-beschauliche Distanz kaum möglich wird. Der Besucher steht, wo immer er steht, in der Kunst.

Brüderlichkeit:
Eine Versammlung von Markenzeichen, die an ihren demonstrativen Gesten zu erkennen bleiben: Das haben alle hier Vertretenen bereits zuvor für sich erreicht. Nichts Neues, wie von Experten für die Gestaltung visueller Formen zu erwarten? Gegenutopien zur zerbröselten Fiktion vom urbanen Leben? Individuelle Autoren bleiben sie in ihrer fiktiven Position zu den individuellen Erinnerungsresten, die hier auf ihre Mitteilbarkeit überprüft werden sollen. Buthes blau-rot-goldene Sternenhimmel, samt afrikanischen Idolen ebenso wie Ennepers graphit-geschwärzter Doppelraum, Lambertins braun-graue Photoleinwände, Jetelovas Mammut-Holz, Serys schwebende Türen und Mönnigs karges Objektensemble: eine Musterschau von Innenraumgestaltern, samt Blume (gemeinsam mit Martin Eckrich) und Jårg Geismar.

Bühnenbildner, Ausstatter, Dekorateure: Könnt ihr euch hier Anregungen holen? Die Künstler haben euch sicher so nebenbei manchen Einfall abgeschaut jedenfalls ist die Schaufenster-Technik präzise einfach (und dabei sehr viel teurer geworden, als vorgesehen). Begehbare Bilder sind zusammengehängt, gezimmert, gespannt, gestrichen und genagelt worden. Je spärlicher die Assemblage, desto offener die Assoziation: „Die letzten Aufzeichnungen von Gedankengängen .. ." schrieb Marina Makowski auf eines ihrer Fotovergrößerungen, „... und deren Umsetzung durch die Probanten", schließt dieser Sinnspruch, das ,Lemma' zur Folge aller dieser Bilderrätsel ohne Geheimnis, die sich zwischen Kindheitserinnerungen und Fernweh-Exotik angesiedelt haben.

Karg bei Georg Herold und Jårg Geismar, hermetisch geht's bei Yilmaz zu: Dunkelblau, finster und Weizen, Licht und Fruchtbarkeit. Wärme und Reichtum als ein agrarischer Jugendtraum. Billig waren sie allemale,die Anlässe. Nichtsdestoweniger waren es heere Träume von einer besseren Zukunft, die durch das Altern und den Alltag heute längst eingeholt und überholt sind, aber es sind mitteilbare Erfahrungen.

Die Kunstbäume von W. Luy sind nunmehr schon die dritte Abschrift der längst in Plastik käuflichen dreckfesten Ersatznatur; ein Blick hinaus auf die Mansarden der Häuser gegenüber klingt wie eine Fortsetzung: Dort stehen fein mittig angeordnet die modischen Zimmerpflanzen disproportioniert groß im engen Fensterrahmen, viel Topf, viel Rahmen und eine Pflanze, die sich nicht so recht in den Rahmen fügen will. Gegenüber schaut aus allen Bildlein uns Polke an. Die grauen Miniaturen sind ein exzellenter Beitrag zu einer Karikaturen-Biennale, die es nicht gibt. Altbekanntes wunderlich bei Blume/Eckrich. Die Scherze, derWitz ist selbst bei dieser Kunst noch immer rar, die Künstler witziger in der Unterhaltung als in ihren Bildern. „Naturschutz ist Staatsbankrott", „Treudeutsche Peinture" sind, positiv oder negativ gewendet, Lambertin-Sprüche, die auch auf diese Ausstellung passen. Die Ironie ist längst so beängstigend müde wie die Nachrichtensprache. Die Stichworte sind bekannt, die Bilderrätsel so selbstverständlich zu lesen wie Werbesprüche: Gegen diese glauben wir uns resistent und nutzen in unserem Jargon ihre Strategie. „Maulfaules Reden" verdächtigte mein Lateinlehrer schon 1950 als Quelle jeglicher geistigen Dekadenz (er hatte von Insider-Sprache und ihrer Funktion noch nichts gehört, denn die seinige wurde staatlich honoriert - uns zur Qual). Es ist nur konsequent, was hier alles geschieht. Die erzwungene Sonderstellung von Kunst gesteht hier einmal mehr ihre sinnstiftende Ohnmacht gegenüber Wirklichkeit ein: Trotzig mit ihr spielend trägt sie eben diese wunderlich schön, abstoßend und sinnlich vor.

Peter Gerlach


» corresponding Galleries
Top ^